DDR 1989/90 Brandenburger Tor

Deutsches Doppelzimmer im gemeinsamen Haus Europa

DIE NELKEN ist eine noch junge Partei in der politischen Landschaft unseres Landes. Welchen Einfluss hat sie derzeit im Bezirk Neubrandenburg?

Unsere Partei wurde erst am 14. Januar dieses Jahres [1990] gegründet. Seit dieser Zeit versuchen wir in unserem Bezirk Basisgruppen in allen Kreisen aufzubauen. Da die Mitglieder unserer Partei ihre Arbeit ehrenamtlich leisten, wirken wir unter erschwerten Bedingungen. In vielen Gesprächen, in denen wir uns vorgestellt haben, sind wir mit hinderten von Sympathisanten in Verbindung gekommen, die uns in unserer Arbeit aktiv unterstützen.

Insgesamt ist unsere Partei zahlenmäßig noch sehr klein, wird aber in den kommenden Wochen und Monaten sicher ihre Position im Bezirk weiter stärken. Immerhin verfügt sie über ein klares Programm, mit dem wir uns dem Urteil der Wähler stellen wollen.

Und den Wähler interessieren nicht nur Losungen, sondern konkrete Inhalte. Mit welchen Inhalten wirbt die marxistische Partei DIE NELKEN im Norden unseres Landes?

In der praktischen Arbeit unserer Partei nimmt der Bereich der Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft einen wichtigen Platz ein. Uns geht es dabei vorrangig darum, die Beschäftigten dieses Bereiches vor den katastrophalen Folgen einer staatlichen währungs- und wirtschaftspolitischen Vereinnahmung zu warnen. Zugleich treten wir ein für eine effektive, ökologisch orientierte und auf die Befriedigung der Bedürfnisse unseres Volkes ausgerichtete marktwirtschaftliche Produktion, für den Erhalt der Genossenschaften und Betriebe der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft, für eine gerechte Lohn- und Preispolitik und nicht zuletzt für attraktive Dörfer.

In den Dokumenten Ihrer Partei wird von Konkurrenzfähigkeit der landwirtschaftlichen Betriebe auf dem EG-Markt gesprochen und eine gezielte staatliche Agrarpolitik gefordert. Was soll diese konkret beinhalten?

Unserer Auffassung nach gilt es, in der nächsten Zeit in der Landwirtschaft eine Reihe von Sofort- und langfristigen Maßnahmen in Angriff zu nehmen, was nur durch ein konkretes staatliches Agrarkonzept realisierbar ist Zu den Sofortmaßnahmen müsste u.a. die Sicherung des genossenschaftlichen Eigentums, die Unterstützung der Landwirtschaftsbetriebe bei der Durchführung von Rekonstruktionsmaßnahmen sowie die schrittweise Ablösung großer Stalleinheiten gehören.

Und langfristig, was soll da en nicht werden?

Die Betriebe der Tier- und Pflanzenproduktion sollen wieder zusammengeführt werden. Und ein Ökofonds steht ebenfalls auf der Tagesordnung, mit dem die riesigen Umweltprobleme gelöst werden können.

In erster Linie geht es uns darum, die Gleichgewichte zwischen Produktion, Umwelt und Natur wiederherzustellen. Dabei wäre es notwendig, im Zuge der Verkleinerung der Betriebe diesen Schritt auch hinsichtlich der Schläge zu gehen. Zugleich plädieren wir für die Umstellung der Fruchtfolge und den Einsatz bodengängiger Technik. All das sind Schritte zurück zu einer umweltfreundlichen Bewirtschaftung.

Mit solchen Öko-Themen kann man kaum das gesamte Wählerspektrum erreichen.

Das stimmt natürlich. Daher treten wir dafür ein, dass unsere Menschen durch noch mehr Aufklärung sich umweltbewusster verhalten. Umweltbewusster verhalten heißt, sparsamer mit dem umgehen, was uns die Erde zu bieten hat, Erschließung von alternativen Energiequellen und Einschränkung bis hin zur Ablösung der Nutzung von Kernenergie, da sie derzeit keine 100 % Sicherheit bietet.

Landwirtschaft und Umweltschutz sind nicht die einzigen Säulen, auf denen das Programm der NELKEN beruht. Deutlich wurde dies vor allem angesichts der drohenden bzw. schon vorhandenen Arbeitslosigkeit, als Ihre Partei eine Demo zu dieser Problematik in der Bezirkshauptstadt organisierte. Welche Konzepte bieten Sie den Wählern?

Wir wehren uns ganz entschieden dagegen, nur über die Einführung der Marktwirtschaft zu reden, nicht aber darüber, welche Auswirkungen sie konkret für unsere Menschen haben wird. Nehmen wir nur Neubrandenburg. Es gibt keine Umschulungsprogramme, keine Konzeptionen für die Schaffung von Arbeitsplätzen in der Stadt. Dazu müssten sich doch eigentlich alle Parteien äußeren, und nicht nur am Runden Tisch.

In diesem Zusammenhang nimmt die soziale Unsicherheit zu. Besonders ältere Bürger machen sich darüber Sorgen. Finden sie auch bei solch junger Partei, wie es DIE NELKEN nun einmal sind, Beachtung?

Ohne Frage, weil wir der Meinung sind, dass die älteren Bürger in den vergangenen 40 Jahren einen großen Beitrag geleistet haben beim Aufbau unseres Landes. Gerade deshalb haben sie es verdient, dass sich unsere Gesellschaft ihnen mit besondere Dankbarkeit und Fürsorge widmet. Wir haben daher zum Beispiel den Vorschlag unterbreitet, aufgrund der gestiegenen Lebenshaltungskosten und der in Kürze zu erwartenden weiteren Preissteigerungen die Grundrente um 300 M, die Pflegesätze für halb- und Vollwaisen um 200 M und den Zuschlag für Rentner und Invalidenrentner mit erziehungspflichtigen Kindern um 100 M anzuheben.

Nicht nur von kommunalen Themen wird der Wahlkampf ´90 bestimmt, sondern auch vom deutsch-deutschen Annäherungs- und Vereinigungsprozess. Und für viele Bürger in unserem Land ist dies sicher mit ausschlaggebend bei dieser Wahl. Wie also stehen Sie, Herr S(...), zur deutschen Frage?

Diese muss im gesamteuropäischen Entwicklungsprozess eingebettet werden. Es kann doch nicht so sein, dass wir ein deutsches Haus im Schnellbau errichten, in dem wir nur ein Gästezimmer zugewiesen bekommen. Wir sind für ein europäisches Haus mit einem deutschen Doppelzimmer, das offene Türen hat. Wir sind für eine Vertragsgemeinschaft mit der Bundesrepublik, für Gleichberechtigung aller Partner. Man kann die politischen und ökonomischen Realitäten in Europa nicht einfach außer Acht lassen. Natürlich sind wir nicht gegen eine Einheit der deutschen Nation. Aber wir wehren uns gegen einen vorschnellen Anschluss, gegen eine Vereinnahmung der DDR zu unseren Ungunsten. Die Menschen unseres Landes haben in den vergangenen vier Jahrzehnten viel geleistet, ideelle und materielle Werte geschaffen, die wir in das Haus Europa einbringen und nicht untergebuttert werden wollen.

Ein insgesamt breites inhaltliches Spektrum will Ihre Partei erfassen, was allein sicher nicht möglich ist. Wer sind Ihre Partner?

Wir arbeiten sehr eng mit der Vereinigten Linken und den linken Jugendorganisationen zusammen. Wir sind für ein breites Linksbündnis trotz unterschiedlicher Auffassungen zu Detailfragen. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit der PDS, einer neuen linken Partei. Dabei gilt dem Erneuerungsprozess, den diese Partei durchmacht, unsere Hochachtung.

Immer bunter wird das Straßenbild im Bezirk, jede sich zur Wahl stellende politische Kraft wirbt um die Gunst der Wähler. Doch von den NELKEN, die bekanntlich mit der VL das Aktionsbündnis Vereinigte Linke eingegangen sind, merkt man nichts. Woran liegt es?

Unsere Partei hat ihren bisherigen Wahlkampf im Grunde genommen aus den Taschen der zur Zeit noch wenigen Mitglieder und Sympathisanten finanziert. Ich will damit sagen, dass wir ohne Wahlredner und materielle bzw. finanzielle Mittel aus dem Ausland auskommen mussten. Erst vor wenigen Tagen bekamen wir von der Modrow-Regierung Mittel zur Verfügung gestellt. Und ich hoffe, dass wir uns in den nächsten Tagen optisch noch mehr bemerkbar machen und Aufmerksamkeit für unsere drei Spitzenkandidaten Andreas G(...), ein Templiner Lehrer, Jörg F(...) vom Funkentstörungsdienst der Neubrandenburger Post sowie den Agraringenieur Gerhard L(...) aus Chemnitz gewinnen.

FE vertrat R. Fritsche und H. Brosin (Foto).

aus: Freie Erde, Unabhängige Tageszeitung, Nr. 61, 13.03.1990, Herausgeber: Verlag Freie Erde


Das Interview wurde mit Dieter S(...), Bezirksorganisator und Gründungsmitglied der Partei DIE NELKEN geführt. Dieter S(...) arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Sicherheitsinspektor in der LPG (P) Burg Stargard.


Δ nach oben