Ein Bündnis contra Handlungsdefizit

"Grüne Liga" für gemeinsame Arbeit zum Erhalt der Umwelt

"Mitverantwortung setzt Informiertheit voraus. Ehrlichkeit und Offenheit sind Bedingung unseres sorgsamen Umgangs mit der Natur. Ich, Bürger eines sozialistischen Staates, bin Miteigentümer seiner Gewässer, ich möchte wissen, in welchem Zustand sich seine Flüsse und Seen befinden, möchte wissen, welche Luft ich atme, atmen muss."

Vor über einem Jahr sagte das der Schriftsteller Reimar Gilsenbach anlässlich der Öko-Kirmes 1988 in Berlin-Köpenick. Seither ist weiter viel schmutziges Wasser die Elbe hinabgeflossen, und an einstmals klaren Badeseen wies nur ein Schild "Baden auf eigene Gefahr" darauf hin, dass dort nicht unbedingt Untiefen und Strudel sein müssen, sondern dass dem erfrischenden Bad vielleicht der Weg zum Hautarzt folgt.

Jahrzehntelanger gewissenlos verschwenderischer Umgang mit Wasser, Luft und Boden trotz mahnender Vorhaltungen der Naturwissenschaftler - deren Mess- und Forschungsergebnisse in den Panzerschränken zuständiger Ministerien verwahrt blieben - haben zu einer Situation geführt, die alle verantwortungsbewussten Kräfte auf den Plan ruft. Und damit ist jeder Bürger gemeint. Wohin aber sollte er sich mit seinen Sorgen und Beschwerden bisher wenden, wenn mitten in den Gemeindewald ein kleiner, aber stinkender Chemiebetrieb gebaut wurde, wenn Großviehanlagen die Naturschutzgebiete zerstörten? Wie konnte eine kleine Gruppe von Anliegern und Einzelkämpfern den Filz lokaler Beziehungen und persönlicher und parteilicher Abhängigkeiten durchstechen, wo bessere Vorschläge loswerden, wo Rat und Hilfe finden? Beschwichtigung und Bagatellisierung war da noch das Beste, was ihm widerfahren ist.

Als ein Angebot zu gemeinsamem Handeln versteht sich die "Grüne Liga", als eine Aktionseinheit aller umweltbewussten Kräfte. Um es vorauszuschicken: Es handelt sich um keine neue Partei, die nach Posten und Pöstchen strebt; ihre Mitarbeiter wollen unabhängig und nicht wählbar werden, sich nicht ins Parteiengerangel begeben, keinen Riesenapparat an Büros und Verwaltungen aufbauen, sondern so öffentlich wirksam wie möglich aus basisnaher Arbeit landesweit Druck erzeugen gegen undurchdachte Vorhaben der Regierenden auch in den Kreisen und Bezirken und gegen leichtfertige Entscheidungen und einsame Beschlüsse hinter verschlossenen Türen. Vor allem will die "Grüne Liga" durch stetige Überzeugungsarbeit am konkreten Beispiel die Bürger unseres Landes zur Mitverantwortung gewinnen und ermutigen, ethisch-moralische Grundanforderungen durchsetzen. Nicht maximale Mengen produzieren auf Teufelkommraus in Landwirtschaft und Industrie, sondern optimale Produktionsverhältnisse schaffen, in der die Gesundheit des Menschen und seiner natürlichen Umwelt höchsten Rang haben. Darum geht es. Das setzt Vernunft, Sachkenntnis und zuweilen auch Selbstbescheidung voraus.

Die "Grüne Liga" will das Dach werden für alle bereits bestehenden und sich neu bildenden Umweltgruppen der Kirche, des Kulturbundes, freier Interessengruppen. Deren Identität und Organisationsform bleibt unangetastet, aber die "Grüne Liga" will die notwendige Koordination aller umweltbewahrenden und umweltgestaltenden Kräfte herstellen. In jedem Bezirk gibt es bereits Kontaktadressen, Auskünfte erteilt z.B. für Potsdam Dipl.-Ing. Matthias Platzeck, (...)str. 4, Potsdam, 1590, ab Mitte Dezember auch mit Telefon: (...). Der junge, energische und rationell arbeitende Mann, Sohn eines Arztes, ist Kybernetiker und hat nach Abschluss dieses Studiums noch ein zweites absolviert. Er ist als Dipl.-Ing. für Umwelthygiene hauptamtlich in Potsdam tätig. Kein "grüner Spinner" also, sondern hervorragender Fachmann, entschlussfreudig und menschengewinnend außerdem.

Viele seiner ehrenamtlichen Mitstreiter in den Bezirken kommen aus dem Bereich der Stadtökologie, andere aus dem "Grünen Netzwerk Arche", andere vom Leipziger Umweltbund, ökolöwen sind vertreten, auch Naturschützer des Kulturbundes, besonders der Gruppe "Argus". Vertreter aller Basisgruppen hatten sich kürzlich in Berlin zusammengefunden und ein Gründungstreffen beschlossen, das in einem der am schlimmsten umweltbelasteten Bezirke - Leipzig wahrscheinlich - am 3. Februar 1990 stattfinden soll. Der uns vorliegende Entwurf zum Gründungsaufruf nennt schon die Sachprobleme der Tagesordnung: Dazu zählen:

- Erarbeitung einer Strategie zum ökologischen Umbau der Gesellschaft einschließlich einer Belastbarkeitsstudie;

- Kennzeichnung von ökologischen Katastrophengebieten der DDR;

- ungeschminkte Darstellung der Umweltsituation in der DDR;

- volle Zugänglichkeit zur Umweltüberwachung;

- Bildung eines unabhängigen Ökologie-Institutes der DDR;

- Bildung einer Kommission zur Aufdeckung aller schwerwiegenden Verletzungen des Landeskulturgesetzes, insbesondere durch Baumaßnahmen und andere Beeinträchtigungen in und an Landschafts- und Naturschutzgebieten;

- Überarbeitung von Gesetzen und Beschlüssen;

- Bildung einer AG zur Überprüfung der Energiepolitik;

- Müllexport und Müllimport;

- Überprüfung der Subventionspolitik unter ökologischen und sozialen Aspekten;

- Einrichtung von Nationalparks und Bioreservaten der DDR, insbesondere anstelle der bisherigen Staatsjagdgebiete und Truppenübungsplätze;

- Vorschläge für die Erschließung gesellschaftlicher Reserven für die Abwendung der ökologischen Krise, insbesondere Aufdeckung von Verschwendungen und Privilegien;

- Herausgabe einer massenwirksamen Monatszeitschrift für Natur- und Umweltschutz als öffentliches Informations- und Diskussionsforum der Bürger;

- Bildung, Verwendung und öffentliche Kontrolle eines Öko-Fonds zur Förderung des ökologischen Umbaus, insbesondere von alternativen gesellschaftlichen Handlungsangeboten;

- Sicherung eines festen, angemessenen Raumes für die Darstellung von Umweltproblemen und die ökologische Information in den Massenmedien, insbesondere im Fernsehen.

Das Fernsehen hat in Verbindung mit der "Grünen Liga" bereits einen Film der Arbeitsgruppe "Ozon" über die Giftmülldeponie in Ketzin, Bezirk Potsdam, gedreht. Er soll am 8. Dezember im Abendprogramm gesendet werden. Man wird vielleicht - auch im Fernsehen geht es gegenwärtig ein bisschen durcheinander mit der Terminplanung wohl Tag und Stunde ein bisschen verschieben können. Ob und wie dieser Film aber gesendet wird, dürfte erkennen lassen, ob und wie ernst es den Verantwortlichen in der Regierung um unsere Zukunft ist. Dass in dieser Deponie kürzlich überlagerte Medikamente im Wert von zigtausend Mark kurzerhand vergraben wurden, was sich als "fachmännisch entsorgt" dartun will, sei nur als Randnotiz vermerkt im Blick auch auf Umgang mit Mark und Pfennig im Staatshaushalt.

Die "Grüne Liga" kann eine Riesenkraft werden. Jeder betroffene und jeder interessierte Bürger kann sich an sie wenden ohne Zwänge und Vorbehalte. Helfer, Spender, Informationen sind willkommen, die Tatbereitschaft der Wissenschaftler ebenso wie die Phantasie der Künstler, damit die Politiker endlich die ökologischen Fragen in ihre Arbeit vorrangig einbeziehen.

Das Gewissen der Menschheit schlägt in vielen Herzen. Jedes Menschen eigenes Gewissen wird der fruchtbarste Boden für den Umbau unserer Gesellschaft sein. Die "Grüne Liga" erwartet alle vernünftigen und ehrlichen Mitstreiter, freut sich über Vorschläge und sachkundigen Rat und gibt Hilfe und Unterstützung, wo sie darum gebeten wird. Die moralische Kraft ihres Anliegens und die Sachkenntnis und Redlichkeit ihrer Mitwirkenden sind unseres Vertrauens würdig.

Barbara Faensen

aus: Neue Zeit, 04.12.1989, Jahrgang 45, Ausgabe 285

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