info nr. 11 vom 18.06.1990

Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Das ehemalige Mitglied der Initiative für unabhängige Gewerkschaften, U(..) B(...), hat Euch einen Brief geschickt, in dem er dazu auffordert, in der SAG mitzuarbeiten. Diese Aktivität ist weder mit uns abgesprochen worden, noch ist sie in unserem Sinne. U(...) B(...) war und ist auch nicht berechtigt, unsere Adressenliste für seine neuen politischen Ambitionen zu nutzen. Wir müssen leider feststellen, dass die SAG, eine trotzkistische Gruppierung, ihre Ziele offenbar auch mit unlauteren Mitteln durchzusetzen versucht.

Wir bedauern, dass es uns diesmal nicht möglich war zu verhindern, dass hier ein paar Leute ihr eigenes Süppchen kochen wollen.

Die Arbeit der Initiative für unabhängige Gewerkschaften geht - wie unserem letzten Info zu entnehmen war - weiter. Wir werden uns in der nächsten Zeit mit dem DGB kritisch auseinandersetzen, um auf die kommende Gewerkschaftsarbeit gut vorbereitet zu sein. Am 27.6.1990 findet ein erstes Arbeitstreffen mit kritischen West- und Ostgewerkschaftern statt. Über seine Ergebnisse berichten wir im nächsten Info.

Initiative für unabhängige Gewerkschaften

Und was heißt nun: Demokratisierung der Gewerkschaften

Dieses Thema wird uns, so heben wir beschlossen (siehe Bericht vom 30.5.90), eire Zeit lang beschäftigen. Dabei soll es vor allem um bundesdeutsche Gewerkschaftstheorie und -praxis gehen, denn mit eben dieser werden wir es in Zukunft auch bei uns zu tun haben. Unsere Erfahrungen mit dem DGB sind allerdings, wie könnte es anders sein, gering, so dass uns nichts anderes bleibt, als auf das zurückzugreifen, was uns Kollegen "von drüben" sagen. Darum wollen wir in den nächsten INFOS über Beispiele berichten, die deutlich machen, wogegen sich demokratisch gesinnte Gewerkschafter in der BRD werden. Aus ihren Erfahrungen müssen wir lernen.

"Mit der Demokratie hapert es bei der ÖTV", heisst es in der "taz" vom 5.2.90. Im nachfolgenden Artikel kann man lesen, dass es einen "Konflikt im stadteigenen und größten Hamburger Hafenbetrieb, der HHLA, seit Jahrzehnten eire Hochburg hanseatischen SPD- und Gewerkschaftsfilzes" gegeben hat. "Eine Gruppe von ÖTV-Mitgliedern hatte sich dort unter der Bezeichnung 'Alternative' zusammengeschlossen. Im März 1987 wurden 13 Mitglieder der Alternative zu Vertrauensleuten gewählt. Im April 1987 errangen diese bei den HHLA-Betriebsratswahlen mit einer eigenen Liste 6 von 23 Mandaten. Die hauptamtliche Bezirksleitung reagierte prompt: am 29. April 1987 weigerte sie sich, den 13 Vertrauensleuten der Alternative die Bestätigung auszusprechen. Der Widerspruch der Betroffenen wurde abgeschmettert. Die 13 legten Klage ein. Sie wollten einen Absatz der bundesweit gültigen Leitsätze für die Wahl von Vertrauensleuten für unwirksam erklären lassen, nach welchem von den Mitgliedern gewählte Vertrauensleute erst noch von den jeweiligen Kreis- oder Bezirksvorständen bestätigt werden müssen."

Bis dahin kommt uns alles noch recht bekannt vor. Das Folgende aber klingt ziemlich neu in unseren Gewerkschaftsohren: Der Klage dieser 13 Vertrauensleute wurde nicht nur stattgegeben - sie gewannen den Prozess sogar! Das Landgericht "erklärte den entsprechenden Passus der ÖTV-Satzung für 'unwirksam' und 'nichtig'. Er verstoße gegen das Grundgesetz... und gegen das in der ÖTV-Satzung aufgestellte 'Gebot der innergewerkschaftlichen Demokratie'."

Im Klartext: hier war (ist) ein Stück Willkür möglich, die eigenständige Entwicklungen an der Gewerkschaftsbasis verhindert(e). Denn: Wie wir am Ende des taz-Artikels erfahren, ist diese Praxis der Bestätigung von Vertrauensleuten durch übergeordnete Gremien auch in anderen Gewerkschaftsorganisationen üblich. Und die, zwar jetzt durch ein Gericht bestätigten 13 Kollegen durften dennoch nicht als Gäste an einer Vertrauensleutevollversammlung der HHLA teilnehmen. Der Stuttgarter Hauptvorstand der ÖTV will sogar gegen die Ungültigkeitserklärung der Satzung in Berufung gehen.

Renate H(...)

Aus einem Interview mit Gerd M(...), einem der 13 Vertrauensleute von der 'Alternative':

Welche Konsequenz hat das Urteil jetzt für das weitere Handeln der Gewerkschaft?

Diese Hamburger Besonderheit, dass die Vertrauensleute Delegierte wählen, die wiederum den Bezirksvorstand wählen und der, wenn er die Vertrauensleute nicht bestätigt, damit Einfluss auf seine eigene Wählerschaft nimmt, wird jetzt - zumindest in Hamburg - geändert... Die ÖTV als Gesamtorganisation besteht eher weiterhin auf den Grundsätzen dieses Bestätigungsrechts. Der Organisationsapparat (der ÖTV) lauft wie im Patriarchat bei einem strengen Vater: wenn der mal oben gesprochen hat, darf unten nicht mehr widersprochen werden.

Diese Rekrutierungspraxis findet sich ja auch in den anderen Gewerkschaften...

Ja und das finden wir nicht gut, weil es um ganz elementare demokratische Prinzipien geht! ... Die ÖTV hat argumentiert, die Wahlfunktionen, wie eben besprochen, seien 'Stabsfunktion' und sie müsste auf deren Besetzung Einfluss haben, auch wenn sie von den Mitgliedern gewählt würden. Sie sehen also Gewerkschaften wie Unternehmen ....

Das wäre ein anderes Gewerkschaftsmodell.

Das Problem ist ja, dass nach außen hin so ein offenes demokratisches Modell vertreten wird. Rein faktisch sind aber aus den Gewerkschaften Unternehmen geworden, die wie ganz normale kapitalistische Unternehmen bewirtschaftet und von den inneren Strukturen bestimmt werden. Das wollen wir nicht.

(Interview aus "express" 3/1990, S.4)

Arbeitslosigkeit - unabwendbares Schicksal?

Die IUG hatte am 13.6.1990 zu einer weiteren thematischen Versammlung eingeladen. Unter dem (fragwürdigen) Motto des Herrn Messedirektors Dietrich K(...): "Wenn es einen trifft, dann den Faulen..." (Tribüne 15.3.90) wollten wir uns über prinzipielle Fragen zur Arbeitslosigkeit sowie über notwendige Schritte der Arbeitslosen verständigen.

Gäste waren Klaus G(...), Präsident des Arbeitslosenverbandes der DDR (ALV) und Christian G(...), Vorsitzender der Bezirksgruppe Marzahn und Mitinitiator einer Selbsthilfegruppe im Verband. Unserer Einladung waren neben den Freunden der IUG, zwei Gäste aus Westberlin bzw. Österreich vor allem auch Betroffene gefolgt. Frauen und Männer, die ihre Kündigung bereits in der Tasche haben bzw. die die Tage zählen können bis der entscheidende Brief ins Haus kommen wird.

Renate H(...) skizzierte eingangs mit einem Diskussionsangebot die Positionen unserer Initiative und problematisierte gleichzeitig einige Aufgaben künftiger (vereinter) Gewerkschaften im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Hier einige Auszüge:

... Folgende Frage lässt sich stellen: nehmen wir Entlassungen und Arbeitslosigkeit wie ein "Naturereignis", gegen das man nichts machen kann (im besten Falle hinterher etwas versuchen) oder wehren wir uns, weil es eben nicht natürlich und selbstverständlich ist, dass die Arbeit so verteilt wird, dass einige immer mehr arbeiten müssen, die anderen gar nicht? Ich neige zum Letzteren.

Aus dieser Sicht drei Problemkreise, die vielleicht auf Widerspruch stoßen werden.

1. Ich meine, dass es nicht die Unfähigkeit des einzelnen Unternehmers ist, wenn er entlässt, um in der Konkurrenz bestehen zu können. Vielmehr ist es der Logik seiner Funktion geschuldet, nämlich mit Gewinn zu produzieren. D.h., ein besserer Mann oder ein guter Betriebsrat können letztlich nichts anderes machen. Aus gewerkschaftlicher Sicht sollte man darum die Haltung vertreten "Gut, euer Interesse ist es zu entlassen, unser Interesse nicht!" (Zu rasch 'Einsicht' zeigen, bringt den Arbeitnehmern nämlich gar nichts).

2. Eine Gefahr besonders bei uns sehe ich darin, dass unter dem Motto "Wir haben alle Verantwortung, was aus dem Werk wird", nun gemeinsam überlegt wird, wie man den Betrieb retten kann, nicht aber die Arbeitsplätze. Und das ist eine andere Sicht. M.E. müssen wirkliche Interessenvertreter folgendes überlegen:

1. Wie sind Entlassungen zu verhindern bzw. welche Formen des Widerstandes sind zu organisieren?

2. Wie können die Entlassungen aufgeschoben werden?

3. Wie kann Kurzarbeit mit vollem Lohnausgleich erreicht werden.

4. Wie können Überstunden, Leiharbeit und andere Formen verhindert werden, die Entlassungen möglich machen?

5. Und erst eine letzte Frage kann es sein, welches Malnehmen müssen eingeleitet werden, um die größten Härten bei anstehenden Entlassungen bzw. Arbeitslosigkeit abzuwenden (Zahlungen, Umschulungen, Sozialpläne...).

3. Der dritte Problemkreis betrifft die Solidarität zwischen Arbeitslosen und Arbeit-Habenden.

- Aus meiner Sicht müssen Gewerkschaften sich im Interesse der Arbeitslosen in den Betrieben stark machen. Appelle reichen da nicht aus, vielmehr bedarf es Aktionen eben im Betrieb.

- Widerstand gegen Entlassungen müssen beginnen, bevor klar ist, wer zu den Entlassenen gehört.

- Gewerkschaften müssen dafür kämpfen, dass die Arbeit anders verteilt wird. Weniger Arbeit auf gleiche Anzahl von Arbeitern!

- Gewerkschaften müssen auch für Arbeitslose offen sein.

- Gewerkschafter sollten sich dafür einsetzen, dass Arbeitslosenverbände quasi Gewerkschaften sind (mit dem Staat als Verhandlungspartner).

Nach Renate H(...) sprach Klaus G(...) - Die offiziellen Statistiken über die Zahl der Arbeitslosen in der DDR hält er für "geschönt". Tausende, zwangsweise in den Vorruhestand Entlassene werden z.B. nicht erwähnt. Hinzu kommen nicht gemeldete Zeitjobber, aber auch Menschen, die bisher nicht den Mut aufbrachten, zum Arbeitsamt zu gehen und "Stütze" zu beantragen. Klaus G(...) geht also von einer erheblichen Dunkelziffer (200 000) aus und prognostiziert für den Sommer einen explosionsartigen Anstieg der Arbeitslosenzahl. Trotz dieser gravierenden Probleme muss der ALV noch um seine Anerkennung und entsprechende staatliche Unterstützung ringen. Abgegebene Prognosen und der Hinweis auf die sich abzeichnenden katastrophalen sozialen Folgen werden als Panikmache denunziert. Nach eigenem Selbstverständnis versteht sich der Verband als eine Organisation, die "so wenig wie möglich Mitglieder haben möchte" und damit perspektivisch an der eigenen Selbstauflösung arbeitet. Marktwirtschaft und Arbeitslosigkeit seien jedoch untrennbar miteinander verbunden, Lösungen brächte schließlich nur ein anderes Gesellschaftsmodell.

Wage und scheinbar in sehr ferne Zukunft gerückt, formuliert der Präsident G. es als eine Aufgabe des Verbandes, für die Überwindung der Arbeitslosigkeit und damit des Verbandes einzutreten. In den Ausführungen rückt so auch schnell der zweite Schwerpunkt der Verbandsarbeit in den Mittelpunkt. Der ALV organisiert und vermittelt Hilfe für Betroffene. Es werden Rechts- und Berufsberatungen angeboten, aber auch psychologische Unterstützung. Selbsthilfegruppen sollen Kommunikations- und Kooperationszentren (Cafés, Werkstätten) für Arbeitslose aufbauen. Als einen ersten Erfolg können die Initiatoren das nun ins Leben gerufene Café A verbuchen. An 2 Tagen in der Woche (Dienstag 15.00-21.00 Uhr; Mittwoch 9.00-12.00 Uhr) können sich im Marzahner Mittzwanziger Club, Helene-Weigel-Platz 5, Betroffene, aber auch Interessierte, treffen und austauschen, Informationen einholen und Initiativen anschieben.

Insgesamt machte die lebhafte Diskussion an diesem Abend zwei Probleme deutlich. Erstens bedarf der Verband der Unterstützung. Der Respekt für das Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter war groß. Offen blieb jedoch die Frage nach den Strategien des ALV, Arbeitslosigkeit zu verhindern. Gerade hier wurde auf künftige Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften hingewiesen.

Aufgabe muss es sein, der Gewerkschaften und des ALV, gegen Arbeitslosigkeit anzukämpfen, Konzepte zu entwickeln, um die Verbannung Hunderttausender in eine Randposition der Gesellschaft zu verhindern. Arbeitslosenwerkstätten sind zu akzeptieren und zu unterstützen. Sie sind aber keine grundsätzliche Alternative. Die Kollegen aus Mannsfeld oder Bitterfeld werden in diesen ehrenvollen Projekten nicht annähernd unterkommen. Gefragt sind übergreifende gesellschaftliche Strategien zur Verhinderung der Teilung der Menschen in Arbeitende und, wie es in neuesten DDR-Deutsch heilt, "zeitweilig in der Arbeitsvermittlung befindliche Bürger."

Sonja H(...)

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