Grundsätze für eine unabhängige gewerkschaftliche Interessenvertretung

1. Eine unabhängige gewerkschaftliche Interessenvertretung hat davon auszugehen, dass sich Staat, politische Parteien und Betriebsleitung auf der einen und die Masse der Lohnabhängigen auf der anderen Seite in einem widersprüchlichen Verhältnis gegenüberstehen. Zwar "sitzen alle in einem Boot", aber die einen auf der Kommandobrücke und die anderen auf der Ruderbank. Damit ist - abgesehen davon, dass natürlich niemand untergehen will - ein Interessengegensatz gegeben, der mit harmonisierenden Phrasen von Volkseigentum hier oder Sozialpartnerschaft da, zwar verschleiert, aber nicht beseitigt werden kann.

Bleibt daher in der gesellschaftlichen Produktion die Teilung der Arbeit zwischen Anweisenden und Ausführenden in der alten Weise aufrechterhalten, müssen beide Seiten ihre unterschiedlichen Interessen gegeneinander geltend machen. Das gilt ganz unabhängig davon, ob der Betrieb dem Staat oder ausländischen Kapitalisten ganz oder teilweise gehört. Den Kombinatsdirektoren unseres Landes ist dieser Gegensatz sehr bewusst: sie streben an, sich in einem selbständigen "sozialistischen Unternehmerverband" zu organisieren und sind bereits in einen regen Erfahrungsaustausch mit ihren "Kollegen" im Westen getreten.

Für die Lohnabhängigen bedeutet das, auch sie müssen sich zusammentun, um ihre Interessen durchsetzen zu können; das betrifft in erster Linie die Löhne, die Tages-, Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit, das Recht auf Arbeit, soziale Absicherung bei Krankheit und im Alter usw. Die Erfahrung in Vergangenheit und Gegenwart zeigt, dass eine Verbesserung der Lebensbedingungen nicht als Geschenk vom Staat oder von den Unternehmern zu erwarten ist, sondern stets nur infolge aktiven oder passiven Widerstands gewährt wurde. Solange es aber keine wirkliche Mitbestimmung gibt, ist der Streik dabei das einzige wirkliche Machtmittel, das die Lohnarbeiter in den Händen haben.

2. Wenn also Staat, Parteien, Unternehmer und Betriebsleitung ihre eigenen Positionen beziehen, muss eine gewerkschaftliche Interessenvertretung davon unabhängig aufgebaut sein und funktionieren können. Andernfalls ist sie nur ein Instrument, um Unternehmerinteressen bei den Arbeitern durchzusetzen. Diese Funktion hatte bisher der FDGB. Die Arbeit einer unabhängigen Gewerkschaft muss sich dagegen grundsätzlich von den bisherigen Praktiken unterscheiden. Zu solchen Grundsätzen gehören:

- geringerer Aufwand für Leitungs- und Verwaltungstätigkeit

- eine durchsichtige und kontrollierbare Gewerkschaftsstruktur

- weniger hauptamtliche Funktionäre auf allen Ebenen;

- Wahl nur auf begrenzte Zeit

- jederzeitige Abwählbarkeit

- Pflicht für Funktionäre, Aufträge ihrer Wähler auszuführen sowie Rechenschaftspflicht von oben nach unten

- soviel direkte Demokratie wie möglich (Urabstimmung usw.), nur soviel indirekte Demokratie wie nötig (Delegiertenprinzip)

- autonome Einzelgewerkschaften, deren Dachverband lediglich Koordinierungsaufgaben zu erfüllen hat

- keine Doppelmitgliedschaft in Unternehmerverband und Gewerkschaften oder Personalunion von Staats-, Partei- und Gewerkschaftsfunktionären.

Sicher können wir diese Vorschläge in der heutigen Diskussion noch erweitern und konkretisieren.

3. Eine von Staat und Unternehmern unabhängige Gewerkschaft, die auf Betriebs- oder Industriezweigebene arbeitet, kann aber nicht genügend Einfluss gewinnen, um die Interessen ihrer Mitglieder umfassend zu vertreten. Sie muss auch bei gesamtgesellschaftlichen Belangen mitreden und mitentscheiden können. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum ausschließlich politische Parteien in einem Parlament vertreten sein sollen - im Gegenteil: bleibt die Einflussnahme der Gewerkschaften auf die Industriezweige beschränkt, hat sie sich ständig mit den Folgen von Entscheidungen zu befassen, die ganz woanders gefällt wurden.

Wir wissen, dass solche Forderungen nach weitgehender Einflussnahme von der jetzigen Regierung nicht unbedingt gebilligt werden, die für ihre Marktstrategie im besten Fall eine Gewerkschaft nach dem Muster des DGB's anstrebt. Dennoch meinen wir, dass von uns auch weiterführende Gedanken in die Diskussion gebracht werden sollen, die über den jetzigen Zustand hinausweisen. Neben der Mitsprache auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gehören dazu auch:

- die Einflussnahme auf die Wahl der staatlichen Leiter (Vetorecht, Urabstimmung)

- die Einflussnahme auf die Erstellung und Verabschiedung des Plans

- die Mitbestimmung bei der Verwendung des Gewinns

- die Mitsprache bei den Veränderungen in der Struktur des Betriebes, des Territoriums, des Landes

Lassen wir unabhängige gewerkschaftliche Interessenvertretungen nicht, ähnlich den westdeutschen Betriebsräten, auf die Rolle des Vollstreckers von Unternehmerinteressen reduzieren, die im so genannten "wirtschaftlichen Allgemeininteresse" zum "Wohl des Arbeitnehmers und des Betriebes" wirken sollen. Wir halten dem entgegen: gewerkschaftliche Interessenvertretungen haben sich ausschließlich um das Wohl der Lohnabhängigen zu kümmern, nicht um das des Direktors, des Ministers oder des Leiters der staatlichen Plankommission!

Initiative für unabhängige Gewerkschaften im Literaturklub,
Conrad-Blenkle-Str. 1, Berlin 1055, Tel. (...)
Mo: 19.00 - 21.00 Uhr und
Mi:  17.00 - 19.00 Uhr

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