STASI: NUR  ABGETAUCHT?

Interview mit Werner Fischer

DIE ANDERE: Gibt es ein Ergebnis und befriedigt es Sie?

WERNER FISCHER: Die Situation, in der wir alle uns befinden, sowohl die Bürgerkomitees DDR-weit als auch wir, die mit Regierungsvollmacht die Auflösung kontrollieren, befriedigt uns nicht. Im Gegensatz zu der Situation von vor zwei Wochen, wo wir einigermaßen das Gefühl hatten, die Auflösung kontrollieren zu können, habe ich jetzt das Gefühl, dass mir alles entgleitet: Das Gefühl hat eine Dimension bekommen, die weit über das hinausgeht, was mit der Auflösung der Staatssicherheit zu tun hat. Nachdem dieses Ministerium fast aufgelöst ist, ist hier sozusagen ein Vakuum entstanden. Das KGB arbeitet, und offensichtlich meinen andere Geheimdienste, im besonderen der Bundesnachrichtendienst der BRD, in die Lücke springen zu müssen.

DIE ANDERE: Bemerken Sie Aktivitäten westlicher Geheimdienste?

WERNER FISCHER: Im Moment überhaupt nicht nachweisbare. Auf jeden Fall gibt es eine ganze Reihe von Hinweisen, natürlich immer von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit.

DIE ANDERE: Heißt das nicht, dass auch die Stasi noch arbeitet?

WERNER FISCHER: Ich glaube, dass sie als Mitarbeiter des MfS nicht mehr arbeiten. Möglichkeiten bestehen in einer Weiterarbeit für andere Auftraggeber, beispielsweise KGB oder andere, insbesondere westdeutsche Geheimdienste.

DIE ANDERE: Warum sind Sie so sicher, dass es nicht die Stasi verkleinerte und natürlich streng konspirative Einheit nicht noch gibt?

WERNER FISCHER: Ich vermisse einfach den Auftraggeber. Und das Motiv.

DIE ANDERE: Da gibt es eine Menge Möglichkeiten. Es geht auch gar nicht darum, Motive zu untersuchen. Es geht darum, die Tatsachen festzustellen. Können Sie dies überhaupt?

WERNER FISCHER: Nein, derzeit überhaupt nicht. Es gibt Strukturen, die wir noch gar nicht kennen. Ich gehe einfach davon aus, dass sich ein bestimmter Teil der ehemaligen Staatssicherheit so verhält, wie er sich wahrscheinlich verhalten muss, wie sich jeder Geheimdienst verhalten muss, in einer solchen besonderen politischen Situation. Ich habe Kenntnis über Befehle für den "Tag X", wonach die Mitarbeiter sich erst einmal "normal" verhalten, ein ganz normales Berufsleben führen sollen, aber wissen, dass sie sich in fünf oder wer weiß wie viel Jahren an einem ganz bestimmten Ort zu treffen haben. Es ist also zu unterstellen, dass es ein informelles Netz gibt, das stabil gehalten und für welchen Fall auch immer aktiviert wird.

DIE ANDERE: Können Sie das beweisen?

WERNER FISCHER: Nein.

DIE ANDERE: Aufgelöst wird die Stasi also von der Stasi selbst. Ist das richtig?

WERNER FISCHER: Mitarbeiter der ehemaligen Staatssicherheit sind vom Ministerpräsidenten beauftragt, diese Auflösung vorzunehmen. Das halte ich auch gar nicht für so verkehrt. Nur sie wissen natürlich, wie sich dort alles verhält. Sie kennen die Örtlichkeiten am besten. Wichtig dabei ist, dass diese Arbeit der Auflösung kontrolliert wird, und hier sind es die Bürgerkomitees, die diesen Prozess, der DDR-weit läuft, kontrollieren.

DIE ANDERE: Sind die Bürgerkomitees dazu personell imstande?

WERNER FISCHER: Ich glaube, ja. Ob sie in jedem Fall in der Lage sind, die volle Kontrolle auszuüben, muss in Anbetracht der Unkenntnis der Örtlichkeiten und Zusammenhänge in diesem Apparat hin und wieder in Zweifel gezogen werden.

DIE ANDERE: Diese Inkompetenz würde ja den Gedanken nahe legen, sie durch Quantität auszugleichen. Hinter jedem Stasi-Auflöser müssten dann ein oder mehrere Angehörige der Bürgerkomitees stehen.

WERNER FISCHER: Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Bürgerkomitees personell verstärkt werden. Wir haben aber im Gegenteil die Erfahrung machen müssen, dass sich nach den ersten heftigen Wochen im Januar die Zahl der Mitarbeiter reduziert hat. Es sind sehr viele abgesprungen.

DIE ANDERE: Problematisch ist nicht nur die Zahl, sondern auch die Zusammensetzung ...

WERNER FISCHER: Das macht allen problembewussten Leuten, auch den Bürgerkomitees, Schwierigkeiten. Die Zusammensetzung erfolgte von Anfang an sehr sporadisch. Niemand ist überprüft worden, und die Möglichkeit, dass sich der eine oder andere ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit hier untergebracht hat, besteht ...

DIE ANDERE: Das schränkt Ihre Wirkungsmöglichkeiten noch weiter ein. Glauben Sie trotzdem noch an den Erfolg Ihrer Arbeit?

WERNER FISCHER: Die Regierungsbevollmächtigten zur Auflösung des MfS für die Bezirke und in der Normannenstraße können den gesamten Prozess dieser Auflösung überhaupt nicht kontrollieren. Wir müssen uns darauf verlassen, dass die Bürgerkomitees vor Ort ihre Arbeit machen. Wir müssen versuchen, uns in die schwer zugängliche Gedankenwelt der ehemaligen Mitarbeiter des MfS, die die Auflösung betreiben, hineinzuversetzen, und den Versuch unternehmen, immer einen Schritt weiter zu denken.

DIE ANDERE: Die Grundproblematik Ihrer Arbeit besteht doch darin, dass Sie als Einzelperson im Grunde machtlos sind. Sie mussten zum Beispiel zur Kenntnis nehmen, dass komplette Einheiten des MfS vom Innenministerium übernommen wurden. Trotzdem haben Sie wieder nur eine Einzelperson als Bevollmächtigten im Innenministerium für die Kontrolle dieses Vorganges gefordert und durchgesetzt.

WERNER FISCHER: Die Einsetzung des Regierungsbeauftragten Brinksmeier, und zwar neben dem Innenminister Ahrendt, mit Weisungsrecht im Ministerium für Innere Angelegenheiten war für uns ein Erfolg. Er kam auch nicht alleine, sondern sorgte dafür, dass einige seiner Vertrauten mit übernommen wurden. Und wir haben dafür gesorgt, dass ein Staatsanwalt unseres Vertrauens dort mitarbeitet. Was die Einstellung ehemaliger Mitarbeiter des MfS im Innenministerium angeht, haben wir weitaus mehr Einblick, viel mehr Möglichkeiten, Grenzen zu setzen und Entscheidungen rückgängig zu machen, die durch den Innenminister getroffen worden sind.

DIE ANDERE: Der bereits durch die Fehlentscheidung des Innenministers entstandene Schaden ist nicht mehr begrenzbar?

WERNER FISCHER: In Teilbereichen konnten wir ihn reparieren. Ein konkretes Beispiel ist der "Munitionsbergungsdienst", wo entgegen den Vereinbarungen und unseren Beschlüssen nicht nur Spezialisten übernommen worden waren. Diese Entscheidung wurde rückgängig gemacht. Die Leute wurden innerhalb des Ministeriums umgesetzt, die Struktureinheit wurde dezentralisiert. Wir können im Moment nur versuchen, solche Probleme so gut es geht zu lösen. Was dann irgendjemand anderes unter einer neuen Regierung entscheidet, liegt nicht in unserem Einflussbereich.

DIE ANDERE: Ihr aktuellstes Problem ist die Weigerung der Generalstaatsanwaltschaft unter Berufung auf die angebliche Immunität der neuen Volkskammerabgeordneten, deren Überprüfung zuzustimmen. Stichwort - Stasi in der Volkskammer!

WERNER FISCHER: Wir waren wohl von Anfang an zu zögerlich im Umgang mit der Generalstaatsanwaltschaft. Wir haben die Erfahrung machen müssen, dass uns Staatsanwälte zugeteilt wurden, mit denen die Zusammenarbeit mehr als dürftig war. Mitunter hatten wir den Eindruck, dass hier sogar blockiert wurde.

DIE ANDERE: Es gibt eine heiße Diskussion über die Personenakten - vernichten oder nicht vernichten; einsehbar machen oder nicht. Ein Präzedenzfall wäre die Problematik der Volkskammerabgeordneten. Welche Möglichkeiten gibt es, diese Akten zu erhalten und gleichzeitig zu sichern, dass sie nicht unbefugt verwendet werden?

WERNER FISCHER: Um das Letzte vorwegzunehmen: Eine hundertprozentige Sicherung gibt es nicht. Deshalb habe ich von Anfang an dafür plädiert, die sechs Millionen Personendossiers zu vernichten, weil sonst jeder von diesen sechs Millionen erpressbar wäre. Ich wollte vermeiden, dass ein Verdächtigungsklima geschürt wird, eine Pogromstimmung. Nach der Wahl und nach der Fülle an Hinweisen, die wir bekommen haben, denke ich, wenn jetzt Leute per Wahl politische Verantwortung in diesem Lande übernehmen, ist das etwas anderes. Ich denke, dass die Bevölkerung ein Recht auf Überprüfung der Abgeordneten hat. Sonst müssten wir uns den Vorwurf gefallen lassen, vertuschen zu wollen. Da gab es für mich eine Zäsur, und ich habe mich dafür eingesetzt, dass eine Offenlegung der Daten aller gewählten Kandidaten erfolgt.

DIE ANDERE: Es bleibt das technische Problem der Aktensicherung.

WERNER FISCHER: Es gibt mehrere Varianten. Eine ist mir sehr sympathisch: das gesamte Archivmaterial unter internationale Kontrolle zu stellen. Auf jeden Fall muss durch Gesetz sichergestellt werden, dass das Material nicht an Salzgitter übergeben wird. Denn diese Forderung gibt es bereits. Man muss auch sagen, dass ein erheblicher Teil der hier erfassten Daten bereits seit langem im Besitz des KGB ist, und es ist auch davon auszugehen, dass andere Geheimdienste über diese Daten verfügen.

DIE ANDERE: Wie lange wird die Auflösung der Stasi noch dauern?

WERNER FISCHER: Es ist sehr schwer, einen konkreten Zeitpunkt zu nennen. Ich gehe davon aus, dass es möglicherweise noch ein Jahr dauern kann, ehe man mit gutem Gefühl behaupten kann, das MfS existiert nicht mehr, weder materiell, noch personell, noch in den Strukturen.

DIE ANDERE: Bildet sich nicht eine Organisation, die nominell zur Auflösung der Stasi eingesetzt wurde, im Grunde aber das Gegenteil betreibt oder jedenfalls nicht mehr tut, als unumgänglich ist, und an deren Spitze als Alibi ein gestandener Oppositioneller steht?

WERNER FISCHER: Ich halte das nicht für abwegig. Allerdings habe ich viele und lange Gespräche mit an der Auflösung beteiligten ehemaligen Mitarbeitern des MfS geführt. Dabei ist mir deutlich geworden, dass man differenzieren muss. Ein großer Teil dieser Leute der unteren Ebenen ist von seiner Führung enttäuscht und zeigt sich sehr kooperativ. Ich müsste mich sehr täuschen, wenn sie das betrieben, was Sie angesprochen haben.

DIE ANDERE: Diese ja. Aber Gesundschrumpfen bedeutet nicht Auflösen. Woher wissen Sie, dass das nicht alles eine große Show ist, hinter der das Eigentliche erhalten bleibt?

WERNER FISCHER: Es ist natürlich schwierig, aus meiner Position dieser Formulierung zuzustimmen. Wenn dem so wäre, müsste ich natürlich sofort alles hinwerfen und aufgeben. Aber aus der Kenntnis meiner Arbeit gehe ich davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit einer Restaurierung sehr gering ist.

Ich sehe die andere Gefahr, dass ehemalige hochrangige Mitarbeiter des MfS aufgrund ihrer Verbindungen und Kenntnisse im Bereich der Wirtschaft Fuß fassen. Dafür gibt es Hinweise. Sie wissen, welche Betriebe welchen Wert haben und wie effektiv sie arbeiten.

DIE ANDERE: Es ist ein Problem, wenn jemand von der Geheimpolizei in die Wirtschaft umsteigt und ein anderes, wenn er Akten und Daten über Personen sammelt, die er damit erpressen kann.

WERNER FISCHER: Die Befürchtung habe ich auch, dass etliche, die im Besitz bestimmter Informationen sind, dies irgendwann einmal anwenden. Möglicherweise hätte das kommerzielle Motive. Das allein wäre schon schlimm genug. Was mir außerdem Sorgen macht, ist, dass diese Leute in der Politik Fuß fassen - wie jetzt am Beispiel einiger Volkskammerabgeordneter zu sehen ist. Wir hätten damit ein erpressbares Parlament und eine erpressbare Regierung. Und ich weiß nicht, ob das der Beginn einer demokratischen Entwicklung sein soll. Im Falle der Vereinigung trifft dieser Sachverhalt auch auf die Bundesrepublik zu.

DIE ANDERE: Es ist damit zu rechnen, dass die neue Regierung einige Veränderungen vornimmt. Das Interesse an Ihrer Person und Tätigkeit dürfte nicht allzu groß sein.

WERNER FISCHER: Ich habe meine Funktion immer darin gesehen, die politische Dimension unserer Arbeit zu beleuchten und öffentlich zu machen. Inwieweit die neue Regierung jemanden wie mich haben möchte, ist eine politische Frage.

[Die Fragen stellte Reinhard Weißhuhn]

aus: Die Andere, Nr. 10, 29.03.1990, Zeitung für basisdemokratische Initiativen, herausgegeben von Klaus Wolfram

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