Schocktherapie statt Besinnung

Der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin zum Staatsvertrag

taz: Welche Möglichkeit hattet Ihr als Opposition, auf die Ausarbeitung dieses Staatsvertrages Einfluss zu nehmen?

Wolfgang Templin: Im wahrsten Sinne des Wortes: keine. Ich halte die ganze Vorgehensweise bei der Vorbereitung und Ausarbeitung des Staatsvertrages, für ein nahezu kriminelles politisches Manöver. Einer ganzen Reihe von Herren im Politmanagament in beiden deutschen Staaten muss klar gewesen sein, dass eine offenere Verständigung über Modalitäten, Rhythmus und Bedingungen im Vereinigungsprozess eine Menge Risiken in sich birgt.

Welche Risiken?

Dass nach den politischen Umbrüchen des Winters und der Wahlentscheidung, die keine politische Richtungsentscheidung war sondern eine D-Mark-Entscheidung, eine zunehmende Bewusstwerdung der Leute darüber einsetzt, wie mühselig und in vielem offen dieser Weg zur deutschen Einheit sein wird. Man wollte das politisches Zweckangebot für die Wahl, die D-Mark, verlängern und ausweiten und damit eine so nicht tragfähige Vereinigungsstrategie insgesamt abstützen.

Mit fadenscheinigen Argumenten, etwa den "Zeitgründen", sind die Vorschläge für eine neue Verfassung der DDR weggeschoben worden. Die sicher sehr prekäre wirtschaftliche Situation der DDR wurde bewusst dramatisiert, auch entsprechende Maßnahmen unterstützt, um zusätzlich zu destabilisieren. Damit und mit dem fetten D-Mark-Angebot hat man Stimmung dafür gemacht, den Vereinigungsprozess umzukehren. Zuvor hatten nahezu alle Experten noch eine Abfolge von wirtschaftlicher Annäherung, Wirtschaftsunion und dann folgender Währungsunion und zugleich begleitender Sozialunion befürwortet. Diesen Prozess hat man versucht umzukehren zur jetzigen Schocktherapie und die Währungsunion zeitlich an die Spitze gesetzt. Argumentativ wurde das zwingend mit den Wünschen der DDR-Bevölkerung begründet. Das geschah im vollen Bewusstsein darüber, was diese Umkehrung bedeutet. Um das Verfahren zu sichern und die öffentliche und die parlamentarische Diskussion möglichst abzuwürgen, wurde die Form eines Staatsvertrages gewählt: Das Verfahren sollte so lange wie möglich bei den Exekutiven bleiben und in Geheimverhandlungen abgewickelt werden. Das ist bis jetzt ja auch gelungen.

Mit dem Staatsvertrag tritt die DDR wesentliche Souveränitätsrechte ab. Müsste jetzt die Einheit nicht schnell kommen, um diese Souveränität für die Bürger zurückzugewinnen?

Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass durch den schnellen Anschluss an die Bundesrepublik ein Sprung auf das politische oder Souveränitätsniveau der Bundesrepublik möglich wäre. Faktisch würde sich in vielem am elenden Zustand der DDR überhaupt nichts ändern. Solange aber die DDR - wenn auch in Teilsouveränität - politisch in irgendeiner Form noch eigenständig existiert, besteht die Chance, diesen Prozess für das zu nutzen, was wir die ganze Zeit angestrebt haben und was verhindert werden sollte: einen Prozess der Selbstbesinnung darauf einzuleiten, was an sozialen und politischen Rechten - die ja überhaupt nicht entwickelt und durchgesetzt sind - müssen sich die Leute jetzt hier selbst erarbeiten und erkämpfen? Es wäre eine Illusion, zu meinen, dass mit einer Wahlentscheidung oder einem gewählten Parlament die Demokratie in dieses Land eingezogen ist. Wer sich die Mentalität der Menschen, den Zustand der politischen Institutionen auf mittlerer und unterer Ebene ansieht, das Fortwirken der alten Apparate, der weiß, welch riesige Arbeit für die DDR noch zu bewältigen ist. Wer soll das machen? Mit welchem Druck soll das passieren? Und wie soll dann in einem staatlich wiedervereinigten Deutschland eigentlich dieses Selbstbewusstsein der Leute und dieser Druck auf Veränderung noch entwickelt werden, wenn die wirtschaftlichen Probleme um vieles härter zuschlagen und wieder nur die Lösung lassen: "Kümmere dich um dich selbst, kümmere dich um dein allernächstes ökonomisches Lebensproblem und gib dafür wieder Mal deine politische Mündigkeit auf!"

Wenn man voraussetzt, dass der Staatsvertrag in der vorliegenden Form verabschiedet wird, welche Aufgaben ergeben sich dann für die Bürgerrechtsorganisationen?

Ich gehe nicht davon aus, dass der Staatsvertrag in dieser Form verabschiedet werden wird. Dazu zeigt sich bereits jetzt zu viel Widerstand von ganz verschiedenen Seiten. Es ist für mich bezeichnend, dass nicht die DDR-SPD sondern Teile der BRD-SPD im Augenblick an entscheidenden Punkten deutliche Kritik anmelden. Dies betrifft die notwendige Strukturanpassung, die Übergangszeiten und -fristen für die Betriebe, aber auch den Prozess der Rechtsumstellung und Rechtsangleichung. Genau das wäre Aufgabe der hiesigen Sozialdemokratie. Die DDR-SPD spielt aber mittlerweile in diesem ganzen Prozess eine erbärmliche Rolle.

Wie kommt das? Teile dieser DDR-SPD gingen doch aus der gleichen Bewegung wie ihr hervor.

Weil ich in der DDR-Sozialdemokratie auch eine Reihe alter Freunde aus der Oppositionszeit weiß, hat mich dieses Problem sehr beschäftigt. Der Prozess der politischen Selbstfindung, kaum dass er begann, hat vermutlich durch den Druck schnell zur "Großpartei" zu werden, sich an der Macht nicht nur zu beteiligen sondern sie auszuüben, auf einmal eine andere Dynamik in Bewegung gesetzt: die Dynamik der Formierung, der Bildung von neuen Seilschaften, des Lobbyismus und Taktierens. So hat man die problematischen Eigenschaften der West-SPD viel schneller übernommen als die dort gewachsene Solidität und das Augenmaß in der Berechnung und dem Absehen politischer Entwicklungen und Konflikte. Das gerade fehlt. Momentan hat das zu einer verhängnisvollen Situation geführt. Man ist bereit, per Blankoscheck die unvertretbaren und unverantwortlichen Risiken einer Entwicklung mitzutragen, ohne als das Korrektiv präsent zu sein, das eigentlich notwendig wäre. Es muss endlich möglich werden, dass die vorhandenen Bedenken und die kritische Haltung vieler Abgeordneter zu diesem Staatsvertrag - nicht nur bei der SPD, sondern auch bei anderen Fraktionen - zu Gehör kommen. Wenn es jetzt schon so ist, dass per Fraktionszwang die einzelnen Stellungnahmen nur noch im generalisierten Für und Wider bestehen, wird eine ganz wesentliche Chance dieses Parlaments zu schnell verspielt.

Wird es in dieser Volkskammer noch einmal zu einer Debatte kommen, die zu Veränderungen des Staatsvertrags führt?

Darin besteht unsere Aufgabe. Am letzten Donnerstag wurde wieder versucht, die ganze Debatte hinauszuschieben. Schon die Tatsache der Einberufung dieser Sitzung zeigt, dass hier Druck gewirkt hat. Unser Bestreben ist es, den vorliegenden Entwurf möglichst in alle dafür wichtigen Ausschüsse zu bekommen und in intensiver Ausschussarbeit doch noch kritisch anzugehen. Das wäre das Moment der parlamentarischen Arbeit. Wenn es allein dabei bleiben sollte, hätte diese Arbeit kaum Sinn. Wir müssen es jetzt schaffen, mit unseren kritischen Einwänden, mit unserer gesamten Ablehnung dieses Staatsvertrages in die Öffentlichkeit zu kommen und endlich dagegen anzugehen, in die Ecke der "Angstmacher" gestellt zu werden. Wir müssen die Grundzüge dieses Vertrages, die ganze Herangehensweise, die damit verbundene undemokratische Methode, die Selbstentmündigung deutlich machen. Wir müssen an substantiell wichtigen Punkten in die DDR-Öffentlichkeit: Eigentumsfrage, Grund und Boden, soziale Rechte, fehlende Konzentration auf Umweltprobleme, der ganze Komplex der juristischen Probleme. Viel unverantwortlicher als unberechtigte Angst zu schüren, ist es, den Leuten eine nur allzu berechtigte Angst auszureden. Das müssen wir klar machen.

Interview: Walter Süß

Der Philosoph Wolfgang Templin ist Mitbegründer einer der ältesten unabhängigen Bürgerrechtsorganisationen in der DDR, der 1985 gegründeten "Initiative Frieden und Menschenrechte". Er wurde Anfang 1988 gezwungen, die DDR vorübergehend zu verlassen. Nach dem Ausbruch der "Revolution" kehrte er sofort dorthin zurück. Gegenwärtig ist er Mitarbeiter der Fraktion "Bündnis 90/Grüne" in der Volkskammer.

TAZ Nr. 3114 vom 23.05.1990

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