"SZ" sprach mit Dr. Herbert Wagner, Elektronikingenieur und Vertreter der Gruppe der 20

"SZ": Dr. Wagner, ich nehme an, Sie waren einer von Tausenden, die am 8. Oktober auf der Prager Straße demonstrierten. Wofür haben Sie demonstriert, und waren Sie bereit, als Vertreter der Straße einen Dialog völlig neuer Art mit dem Staat zu beginnen?

Dr. Wagner: Ich war am 8. Oktober auf der Prager Straße nicht dabei. Aber Kaplan Richter, der dort in letzter Sekunde auf die Polizei zugegangen war, um zu verhandeln, bat mich am 9. Oktober, seinen Platz in der Gruppe einzunehmen. Ich sagte zu, da ich mich mit den ersten Forderungen der Demonstranten voll identifizierte. Ich sah in dem gerade begonnenen Dialog einen friedlichen Weg zu den längst überfälligen Reformen. Die Gruppe stimmte diesem Austausch zu.

"SZ": Wenn Sie die Zeit vom 8. Oktober bis jetzt verfolgen, inwieweit sehen Sie das Wirklichkeit werden, wofür Sie Anfang Oktober angetreten sind?

Dr. Wagner: Bereits in diesen wenigen Wochen wurden mit rasantem Tempo wesentliche Forderungen der Demonstranten erfüllt und weitere Lösungen deuten sich an. Das Durchschlagenste ist wohl die volle Reisefreiheit.

"SZ": Ihren Worten entnehme ich, dass Sie an eine Wende in unserem Land glauben . . .

Dr. Wagner: Ja, ich glaube daran, sonst würde ich mich nicht so dafür einsetzen. Aber sie ist noch nicht vollzogen, weder im Großen noch im Innern vieler Menschen. Jetzt erwarten wir, dass eine unabhängige Untersuchungskommission zur restlosen Aufklärung aller Vorgänge in diesen Tagen ihre Arbeit aufnimmt. Darüber hinaus sind am meiner Sicht vor allem drei Dinge nötig: Erstens muss der Führungsanspruch der SED aus der Verfassung gestrichen werden. Zweitens gilt es, den Angstapparat Staatssicherheit in einen normalen Nachrichtendienst umzuwandeln. Drittens brauchen wir schnell durchgreifende Wirtschaftsreformen, auch unter den Gesichtspunkt aller Dinge, die sich als dem Reiseverkehr ergeben. Diese äußeren Reformen werden ihren Erfolg aber nur dann haben, wenn sie mit einer moralischen Umkehr des Menschen einhergehen, in dem Sinne, dass er sich seiner Mündigkeit, seiner Souveränität und Verantwortung als Staatsbürger gegenüber der Gesellschaft und dem anderen Bürger von Grund auf bewusst wird. Ich schließe mich da nicht aus.

"SZ": Können Sie diesem Sinn an einem Beispiel verdeutlichen?

Dr. Wagner: Nehmen wir den Ruf der Demonstranten "Stasi in die Volkswirtschaft", er ist unüberhörbar. Doch wenn Sie solch einen Rufer befragen, ob er bereit sei, einen aus dem MfS ausgeschiedenen Mitarbeiter in sein Arbeitskollektiv aufzunehmen, so wird er wahrscheinlich ablehnen. Ich vermute, dass ein MfS-Mitarbeiter ähnlich reagiert. Auf beiden Seiten bestehen also noch Angst und Ressentiments. Doch wir müssen uns gegenseitig eine Chance geben.

"SZ": Was würden Sie denen raten, die immer noch unser Land verlassen wollen?

Dr. Wagner: Ich weiß um die innere Zerrissenheit vieler Menschen gerade jetzt. Die Entscheidung zu gehen muss man akzeptieren. Ich bin aber heute besonders traurig über jeden, der uns verlässt und appelliere an seine Anständig gegenüber dem Gemeinwohl der Deutschen in Ost und West. Einen höheren Wohlstand können wir ihm hier sofort nicht versprechen, aber einen einen ehrlich gemeinten Neuanfang. Ich rufe diesen Leuten zu: Wagen Sie ihn mit uns!

"SZ": Wie schätzen Sie Charakter und Verlauf des Dialogs mit OB Wolfgang Berghofer ein?

Dr. Wagner: Die Gesprächs finden zwischen zwei ungleichen Partnern statt. Auf der einen Seite der Oberbürgermeister als Verkörperung von Staat und Partei mit einem kompletten Verwaltungsapparat hinter sich. Auf der anderen Seite eine fast zufällig zusammengewürfelte und zunächst unorganisierte Gruppe, die so bunt, schön, aber auch so problematisch ist, wie das Volk selbst, und in die sehr große, ich meine, zu große Hoffnungen gesetzt werden. Aus dieses Ungleichheit ergaben und ergeben sich vielleicht auch künftig unvorhersehbare Situationen, und eine Kultur des politischen Meinungsstreites will erst noch erlernt sein. Aber es gab auch Ausrutscher, weil man sich im eigenen Kreis ein falsches Bild vom Partner machte. Ich selbst habe den Oberbürgermeister in den Gesprächen schätzen gelernt.

"SZ": Der Erfolg der Erneuerung wird von klugen Taten und Aktionen abhängen. Was wird die Gruppe der 20 dazu einbringen?

Dr. Wagner: Wir koordinieren mit allen basisdemokratischen Gruppen der Stadt unsere Aktionen, vor allem mit dem Neuen Forum. Das gilt schon jetzt für die Demonstrationen und Kundgebungen, die wir solange durchführen wollen, bis die Wende unumkehrbar ist. Wir bleiben aber auch mit dem Rathaus im Gespräch.

"SZ": Wer ist die stimme des Volkes? - so Ihre Frage auf der jüngsten Dresdner Stadtverordnetenversammlung. Von wie vielen Dresdnern hat die Gruppe ihre Legitimation?

Dr. Wagner: Auf unserem Konto sind über die Eine-Mark-Aktion über 80 000 Mark eingegangen, was also etwa einer Legitimation durch 80 000 Bürger entspricht. Zusätzlich sind uns zahlreiche Vollmachten eingegangen. Wir treffen uns zwar drei- bis viermal in der Woche, hatten aber noch nicht die Zeit, sie alle zu zählen. Ich möchte hier dem Ehepaar danken, das diese Vollmacht-Aktion gestartet hat.

"SZ": Die Demonstration vergangenen Montag richtete sich gegen die führende Rolle der SED. Welche Stellung sollte die SED nach ihrer Meinung künftig im politischen System unseres Landes einnehmen?

Dr. Wagner: Die SED soll eine gleichberechtigte unter den anderen Parteien sein und ihre gesellschaftliche Rolle aus dem Ergebnis freier und geheimer Wahlen jeweils neu bestimmen.

"SZ": Bei den Rathausgesprächen gewinnt man den Eindruck, Superintendent Christof Ziemer ist für die Gruppe mehr als nur der stille Begleiter auf ihrem Weg. Welchen Einfluss haben kirchliche Kreise auf das Denken und Handeln der Gruppe?

Dr. Wagner: Das mutig, großherzige und sachkundige Auftreten der Kirchen ist nicht ohne Einfluss auf uns geblieben. Superintendent Ziemer gehört zu den Begleitern oder auch Beratern der Gruppe, und seine Empfehlungen haben sich als sehr hilfreich erwiesen. Stimmrecht hat er nicht. Die Gruppe und die Stadt Dresden haben ihm viel zu verdanken.

"SZ": Wie sind jetzt die Arbeitsbedingungen?

Dr. Wagner: Die Gruppe wird nächste Woche ein Büro in einem Hinterhaus auf der Alaunstraße 71 in Dresden (8060) eröffnen.

(Mit Dr. Wagner sprach Thomas Schade.)

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 247, 20.10.1989, 44. Jahrgang, Organ der Bezirksleitung Dresden der SED, Herausgeber: Bezirksleitung Dresden der SED


[Herbert Wagner trat im Frühjahr 1990 der CDU bei und wurde Spitzenkandidat der CDU für das Oberbürgermeisteramt in Dresden. Er bekleidete das Amt von 1990 bis 2001.]

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