Wortmeldung von Frauenforscherinnen

Wir treten für die gesellschaftliche Gleichheit von Frau und Mann und eine Gesellschaft ohne Privilegien, Diskriminierung und Ausgrenzung ein. Die Realisierung der Gleichberechtigung in der DDR hat international gesehen einen relativ hohen Stand erreicht. Dennoch führte eine in wesentlichen Punkten verfehlte Frauenpolitik der SED seit den 70er Jahren zu Rückschritten und zur Stagnation im Prozess der Gleichstellung der Frauen und Männer und trug damit zur gesamtgesellschaftlichen Stagnation bei. Es wurde zugelassen, dass große Teile der Frauen in unserer Gesellschaft unter schlechten, teilweise unzumutbaren Bedingungen leben, arbeiten und wohnen. Das sind vor allem ältere Frauen, die nach dem zweiten Weltkrieg die schwere Last des Neubeginns auf ihren Schultern getragen und einer neuen Generation den Weg bereitet haben. Das sind die alleinerziehenden Frauen, alle berufstätigen Frauen unter schlechten Arbeitsbedingungen mit geringem Verdienst, das sind all jene Frauen, die täglich unter enormen psychischen und physischen Belastungen in die Pflicht genommen sind, Beruf und Familien zu vereinbaren. Es wurde zugelassen, dass viele Kinder zu Leidtragenden einer Überbelastung wurden. Das konnten auch Krippe, Kindergarten und Schule nicht ausgleichen. Es wurde zugelassen, dass sich die Benachteiligungen von Frauen in allen Lebensbereichen eher verstärkt als verringert haben. Frauen arbeiten mehrheitlich in schlechter bezahlten Berufen und Tätigkeiten. Frauen sind durchgehend auf die zweiten Plätze verwiesen. Trotz vieler guter juristischer und praktischer Voraussetzungen sind wir der Verwirklichung des großen Ideals - Emanzipation der Frau - nicht näher gekommen. Im Gegenteil, wir befürchten, der gesellschaftliche Umbruch und die konsequentere Orientierung auf die Leistungsgesellschaft könnten Frauen zu den neuen Verlierern machen. Deshalb treten wir dafür ein, die Frauenfrage zu einer bestimmenden Frage bei allen gesellschaftlichen Entscheidungen zu machen und sie mehr ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Kurzfristig heißt das vor allem:

- Jede Veränderung im System der Preise, Tarife, Subventionen und Sozialmaßnahmen darf nicht zu Lasten von Frauen gehen.

- Das verfassungsmäßige Recht auf Arbeit ist besonders für Frauen zu schützen.

- Es ist zu sichern, dass durch Arbeitskräfteumstrukturierung kein sozialer Abstieg von Frauen erfolgt. Der vorrangigen Zuschreibung der Familienaufgaben an Frauen ist durch Orientierung auf Vereinbarkeit auf Berufstätigkeit und Elternschaft und Änderung der entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen, die Männer bisher nur bedingt daran beteiligten, entgegenzuwirken.

- Es sind Grundlagen dafür zu schaffen, dass das System der Dienstleistungen und Versorgung, der Kinderbetreuung und des öffentlichen Nahverkehrs qualitativ verbessert wird und dass Frauen und Männer mehr Zeit für Kinder, Familie und individuelle Lebensgestaltung finden.

Es sind konkrete Interessenvertretungen für alle Frauen, demokratische Organisationsformen und Strukturen mit Macht- und Entscheidungsbefugnissen zu schaffen.

Das heißt zum Beispiel:

- Bildung eines Ausschusses für Frauenfragen in der Volkskammer und eines Gremiums auf höchster Regierungsebene (Ministerium oder Staatssekretariat für Frauen)

- Bildung von Frauenabteilungen und -kommissionen auf allen Ebenen;

- Anerkennung des unabhängigen Frauenverbandes der DDR.

Für die innerparteiliche Arbeit ist notwendig:

1. die Durchsetzung der 40-Prozent-Quote für Frauen auf allen Parteiebenen und für alle Funktionen und Mandate;

2. die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft Frauen als Interessenvertretung der Genossinnen auf allen Ebenen mit entsprechendem Antrags- und Vetorecht;

3. die Interessen von Frauen müssen bei der Neuerarbeitung von Statut und Programm durchgängig verankert werden.

Es ist ein Frauenprogramm der Partei zu erarbeiten.

Das Material wurde erarbeitet von

Prof. Dr. sc. Barbara Bertram, Zentralinstitut für Jugendforschung, Leipzig;

Prof. Dr. sc. Gisela Ehrhardt, Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin;

Dr. sc. Ute Kretzschmar, Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Berlin;

Dr. sc. Hildegard Maria Nickel, Humboldt-Universität, Berlin;

Dr. phil. Eva Schäfer, Akademie für Gesellschaftswissenschaften Berlin

aus: Neues Deutschland, Jahrgang 44, Ausgabe 294, 14.12.1989, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die Redaktion wurde 1956 und 1986 mit dem Karl-Marx-Orden und 1971 mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet.

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