Gegen Einverleibung der DDR Für selbstbestimmtes Leben

Aufruf eines Ost-West-Frauenbündnisses zur Demonstration am 29.9.

DOKUMENTATION

Die Grenzen des Erträglichen sind lange überschritten: Die Einverleibung der DDR durch westdeutsche Parteien und Konzerne geht zu Lasten der Menschen in beiden deutschen Staaten, die Hauptlast wird dabei den Frauen aufgebürdet.

Seit Monaten zerreißen sich die Herren "Wiedervereiniger" das Maul über allerpersönlichste Entscheidungen von Frauen. Paragraph 218, eingeführt bei der ersten deutschen Reichsgründung 1871, soll nun den Frauen in der DDR wieder übergestülpt werden. Die Übergangsregelung und die Diskussion um Tat- oder Wohnortprinzip oder einen angeblichen dritten Weg soll nur der Ablenkung dienen. In Wirklichkeit geht es darum, die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs aufrechtzuerhalten. Mit staatlichem Zwang sollen Frauen auf die Rolle als Hausfrau und Mutter festgenagelt werden. Wer sich dem entzieht, wird nun auch in der DDR immer unverhohlener als Mörderin oder Schlampe diffamiert. Währenddessen wird in der BRD versucht, über eine Verfassungsklage die Notlagenindikation abzuschaffen.

Gegen die unsozialen Folgen des Anschlusses

Generell verschlechtern sich die Lebensbedingungen für Frauen. In der DDR verlieren insbesondere sie in Scharen ihre Arbeitsplätze und werden vielfach mit Hungerlöhnen abgespeist. Für sie sind die Chancen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden, noch geringer als für arbeitslose Männer. Das Recht auf bezahlte Arbeit wird gestrichen. Die Lasten der Kindererziehung werden Frauen als Privatangelegenheit aufgehalst. Die öffentliche Vermarktung von Frauenkörpern hält nun auch in der DDR Einzug. Es ist zu befürchten, dass sich die durch den gegenwärtig stattfindenden Umbruch erzeugte Aggressivität und Unsicherheit in zunehmender Gewalt gegen Frauen äußern werden.

Aber auch die Frauen in der BRD werden die Folgen einer Einverleibung der DDR zu spüren bekommen: Zum Beispiel werden heute schon Forderungen von Frauen nach der Finanzierung von sozialen Einrichtungen mit dem Hinweis auf die angeblichen Kosten des Anschlusses abgewiesen.

Die deutschtümelnde Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung ist zunehmend bedrohlich. Die ausnahmslose Verteufelung der DDR-Vergangenheit schafft ein Klima der Denkverbote und Anpassung, das die fortschrittlichen Ideen der DDR-Opposition zu ersticken droht. Nationalismus und Intoleranz richten sich in besonderer Weise gegen ImmigrantInnen und Flüchtlinge. Offene Provokation und Tätlichkeiten von Rechtsextremisten häufen sich. Angriffe auf das Asylrecht dienen mehr als Mittel zum Stimmenfang.

Der Einigungsprozess ist in höchstem Maße undemokratisch: kein Jahr, nachdem die Rufe "Wir sind das Volk!" allgemein bejubelt wurden, wird nun ohne Volksabstimmung, ohne Verfassungsdiskussion, ohne Eingriffsmöglichkeiten der Betroffenen der Anschluss von oben durchgezogen. Alle in der Phase der Demokratisierung erreichten Fortschritte wie Runde Tische, BürgerInnenkomitees oder zum Beispiel der Verfassungsentwurf werden vom Tisch gefegt. Es wird ein hochgerüsteter, umweltzerstörender und wirtschaftlich enorm mächtiger Koloss zusammengezimmert, der nicht nur für die europäischen Nachbarländer eine Bedrohung darstellt, der die Ausplünderung der "Dritten Welt" noch intensiver betreibt und der nach innen autoritäre Züge aufweist. Nicht die Interessen der in beiden deutschen Staaten lebenden Menschen stehen im Vordergrund, sondern großdeutsche Machtgelüste und das Interesse an neuen Absatzmärkten. Dazu sagen wir Nein!

Deshalb demonstrieren wir:

- für die selbstbestimmte Entscheidung der Frau über Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch, für die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218, für kostenlose, ambulante und schonungslose Abbruchmöglichkeiten, für kostenlose Verhütungsmittel;

- für das Recht der Frauen auf eine ökonomisch selbständige Existenz, für das Recht auf bezahlte Arbeit, für den Erhalt und die Erweiterung sozialpolitischer Errungenschaften der DDR, wie zum Beispiel Kündigungsschutz, bezahlter Elternurlaub und für den Erhalt des Rechtsanspruches auf öffentliche Kinderbetreuung;

- für das Recht aller auf eine frei gewählte Lebensform, gegen den Paragraphen 175, gegen eine Steuergesetzgebung, die Lebensgemeinschaften und Alleinerziehende benachteiligt, gegen gewaltverherrlichende Pornographie und sexistische Werbung;

- für Entmilitarisierung, für die Auflösung der Militärblöcke, für die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, für tatsächliche Abrüstung auch im Westen, gegen staatlich geduldete Rüstungsexporte, gegen eine militärische Intervention der BRD im Golfkonflikt und gegen eine deutsche "Weltpolizei";

- für eine ökologische Wirtschafts-, Energie- und Verkehrspolitik in ganz Deutschland, gegen das Energiemonopol der BRD-Konzerne, gegen Atomkraft, gegen staatlich verordnete Automobilisierung der Gesellschaft;

- für das gleichberechtigte Zusammenleben verschiedener Kulturen, für die Abschaffung des AusländerInnengesetzes, für die Anerkennung von Sexismus als Asylgrund, gegen das Abschieben von ImmigrantInnen, gegen Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus.

Wir rufen alle, die eine Einverleibung der DDR nicht wollen, die auf ein Vaterland pfeifen, die für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen eintreten, Frauen und Männer, Kinder und ältere Menschen, Behinderte, In- und AusländerInnen zu einer Demo am 29.9.1990 um 5 vor 12 in Berlin auf.

Initiatorinnen der Demonstration: Unabhängiger Frauenverband der DDR, Frauen gegen Paragraph 218 Bundesweite Koordination, Frauen begehren Selbstbestimmung

Die Demo wird unterstützt von diversen Juso-Bezirken und Landesverbänden und deren Bundesvorsitzender, den Grünen (Bundesverband und einzelnen Landesverbänden), der DKP, Frauenzentren und Frauengruppen, ASTA Uni Bielefeld und Bremen u.a. Die OrganisatorInnen rechnen außerdem mit der Unterstützung der Linken Liste/PDS und verschiedener Gruppen aus der DDR.

aus: taz Nr. 3201 vom 04.09.1990

Zum Offener Brief an die Initiatorinnen der Frauendemonstration am 29.9.90 in Berlin

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