Stellungnahme zur Frauenfrage

Erklärung der Teilnehmerinnen eines Gesprächs bei der Illustrierten "Für Dich"

Auf Einladung der Frauenzeitschrift "Für Dich" trafen sich am 1. November Frauenforscherinnen unserer Republik zu einem Rundtischgespräch über die Situation der Frauen in der DDR. Als ein Ergebnis entstand folgender Brief an das Zentralkomitee der SED:

"Geht die Erneuerung an uns Frauen vorbei?"

In dem jetzt in Gang gekommenen Dialog spielen die Interessen von Frauen bislang keine Rolle. In unserer Gesellschaft existiert kein öffentliches Bewusstsein über die reale Lage der Frauen und ihres weitgehenden Ausschlusses aus den wichtigsten Entscheidungsbereichen der staatlichen und politischen Macht. Reformen werden nur dann Erfolg haben, wenn die Interessen der weiblichen Hälfte unserer Gesellschaft wahrgenommen und berücksichtigt werden. Das müssen in erster Linie Frauen selbst in Gang bringen und mit allen gemeinsam durchsetzten. Dazu bedarf es konkreter Interessenvertretungen, demokratischer Organisationsformen und -strukturen, die den Frauen Macht- und Entscheidungsbefugnisse geben.

Wir fordern, dass auf dem anstehenden Plenum des Zentralkomitees der SED diese Fragen auf die Tagesordnung kommen und bei der konzeptionellen Vorbereitung des XII. Parteitages der SED wie auch bei der Veränderung politischer und staatlicher Strukturen grundsätzlich mitgedacht werden.

Auf der Grundlage der bereits geschaffenen Bedingungen für Frauen stehen unseres Erachtens kurzfristig folgende Aufgaben zur Entscheidung an:

Wir sind bereit, unsere Vorstellungen, die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Arbeiten und unsere Vorschläge öffentlich zur Diskussion zu stellen."

aus: Berliner Zeitung, Nr. 262, 07.11.1989, 45. Jahrgang

Frauenmut, stärker als Mauern?

Berlinerinnen von hüben und drüben treffen sich zu feministischem Rundumschlag / Offener Brief an das sogenannte Feminat Berlin-West

Als die Berliner FrauenfrAktion ihre Veranstaltung mit "Um -, Über-, Aus- und Ein-Siedlerinnen" plante, über politische Perspektiven "hüben und drüben", konnte keine ahnen, wie schnell sich die Ereignisse überstürzen würden. Montagabend nun kamen im Schöneberger Rathaus 70 Frauen zusammen, darunter Frauensenatorin Anne Klein. Im Mittelpunkt des Interesses standen die Vertreterinnen von "Lilo" (Lila Offensive), einer neuen Ostberliner Gruppe frauenbewegter Frauen. Die Diskussion kreiste um Feminismus in der DDR, das Verhältnis von Frauenbewegung und neuer Opposition, um die Reformierbarkeit des staatlichen Frauenverbandes DFD, die zu erwartenden ökonomischen und sozialen Veränderungen - und ihre Folgen für Frauen... Eingebracht wurde folgender offene Brief Westberliner Frauen. Er ist Antwort auf einen offenen Brief von DDR-Wissenschaftlerinnen, der vergangene Woche in der (Ost-) 'Berliner Zeitung' erschien.

Wir freuen uns grenzenlos über die Erfolge der Demokratiebewegung in der DDR. Geschichte wird gemacht aber wer repräsentiert und interpretiert sie? Momper (okay), Brandt (okay) - zur Entspannung. Doch wo blieb die Sichtbarkeit und die eigene politische Sprache unserer acht Senatorinnen zur Lage der Stadt? An der Mauer, auf der Lauer...

Wäre nicht Verschwesterung im Taumel der Verbrüderung auch angesagt gewesen? Wir vermissen ein gemeinsames öffentliches Nachdenken der acht Senatorinnen über die Zukunft der Frauen in der nicht mehr durch die Mauer geteilten Stadt. Teilen sie unsere Hoffnungen und Freuden, aber auch unsere Ängste und Verunsicherungen, ob wieder einmal in einer historischen Umbruchsituation die Verbesserung der Lebensrealität von Frauen zum Luxus erklärt wird? Konnten oder durften sie nicht?

Trotz Frauen-, Friedens- und Demokratiebewegung hüben wie drüben tragen unsere acht Senatorinnen dazu bei, dass die Aktivitäten der Frauen unterschlagen werden. Frauen in der Mehrheit, obwohl inzwischen vermehrt zu politischen Repräsentantinnen gewählt, verhalten sich, als ob sie in der Minderheit wären.

Wir fragen uns, wie die kritischen Frauen in der DDR: "Geht die Erneuerung an uns vorbei?" Wir verweisen auf die von Wissenschaftlerinnen aus der DDR an das ZK der SED gerichtete Stellungnahme zur Frauenfrage vom 6.11.89. Mit ihnen fragen wir: Geht die Erneuerung an uns vorbei? Wir fordern mit ihnen für Ost und West:

- Quotierung, das heißt gleiche Anteile von Frau und Mann an Funktionen und Ämtern in Staat, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und Schaffung entsprechender Arbeits- und Lebensbedingungen;

- Umgestaltung im Staatsapparat, in Parteien, in der Gewerkschaft und den gesellschaftlichen Organisationen in der Weise, dass spezielle Bedingungen, Bedürfnisse und Interessen von Frauen artikuliert und durchgesetzt werden können, zum Beispiel durch Frauenabteilungen und -kommissionen mit entsprechenden Macht- und Entscheidungsbefugnissen;

- Der vorrangigen Zuschreibung der Familienaufgaben an Frauen ist durch Orientierung auf Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Elternschaft und Änderung der entsprechenden sozialpolitischen Maßnahmen, die Väter bisher nur bedingt daran beteiligten, entgegenzuwirken;

- Das System der Dienstleistungen und Versorgung, der Kinderbetreuung und des öffentlichen Nahverkehrs ist qualitativ zu verbessern, und territoriale Unterschiede sind abzubauen;

- Neuprofilierung des DFD und/oder Zulassung einer selbständigen Frauenbewegung, die die Interessen der Frauen in allen Bereichen ihres Lebens erfasst;

- Bildung eines Ausschusses für Frauenfragen in der Volkskammer und eines Gremiums auf höchster Regierungsebene;

- Förderung der Aktivitäten von Frauen, sich eigene Lebensräume zu schaffen (Medien, Klubs u.ä.)

Wir sind bereit, unsere Vorstellungen, die Ergebnisse unserer wissenschaftlichen Arbeiten und unsere Vorschläge öffentlich zur Diskussion zu stellen.

Der drohende Ausverkauf der DDR verschärft die Gefahr, dass Fraueninteressen bei Wirtschafts- und Währungsreform, bei Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wohnungspolitik, bei Verkehrs und Städteplanung zur Seite geschoben werden; von der Ökologie ganz zu schweigen.

Das bliebe herrschende Männerdemokratie. Das bedeutet eine Zunahme von Gewalt gegen Frauen in Ost und West. Es muss endlich Schluss sein mit einem Verständnis von Feminismus als Nachsorge verantwortungsloser Männerpolitik und Männerwirtschaft. Bei aller trunkenen Freude der letzten Tage und Nächte ist uns der Ansturm von DDR-Männern auf die Peepshows in West-Berlin nicht entgangen. Ihre Frauen warteten draußen.

Wir warten nicht auf bessere Zeiten. Wir wollen: Demokratie jetzt!

Aus dem Rat der Frauen Berlin-West: Halina Bendkowski (FrauenfrAKTION), Sigrid Haase (AL-Frauenreferentin), Helga Manthey (AL-Frauenbereich), Eva Quistorp (MdEP, Frauen für den Frieden)

aus: taz-Berlin Nr. 2963 vom 15.11.1989

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