Vielfältige und komplizierte Gewerkschaftslandschaft

betr.: "FDGB auflösen, Mitglieder einheimsen", taz vom 20.6.90

Wenn von Gewerkschaften in der DDR gesprochen wird, geht man im allgemeinen von den im FDGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften aus. Spricht man von zukünftigen Gewerkschaften in einem geeinten Deutschland, so macht man sich Gedanken über das Ob und Wie des Zusammenwachsens der alten FDGB-Gewerkschaften und der DGB-Gewerkschaften.

Völlig ignoriert scheinen solche Gewerkschaftsorganisationen, die sich nach dem Herbst 1989 neben den FDGB-Gewerkschaften gegründet haben. Eine solche Gewerkschaft ist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die es bereits in den zukünftigen Ländern der DDR Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Berlin (Ost) gibt. Diese Landesverbände haben sich unabhängig voneinander und ohne das Treiben der Schwesternorganisationen in der BRD gegründet. Die Initiativen zur Gründung der GEW gingen von einigen KollegInnen der Basis aus, die sich schon in bildungspolitischen Initiativen der Bürgerbewegungen betätigten. (...)

Im Gründungsaufruf zur GEW Berlin-Ost heißt es unter anderem: "Die demokratische Revolution in unserem Land erfordert auch eine pädagogische Revolution in den Bildungseinrichtungen sowie eine Erneuerung des Wissenschaftsbetriebs. Zugleich müssen sich die Beschäftigten gegen Verschlechterungen an den Arbeitsplätzen schützen und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen eintreten. Es muss bei der Vereinigung des sozialen Niveaus und der tariflichen Rechte auf Grundlage der jeweils besten Leistungen kommen..."

Aus der Ära Ulbricht über Margot Honecker bis in die jüngste Zeit hinein waren die alten Gewerkschaften (Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE) und Gewerkschaft Wissenschaft (GW) d.V.) in vollem Umfang mitverantwortlich für die Deformationen im Bildungs- und Wissenschaftsbereich. (...)

Aus diesem Wissen heraus, ist Ihre Bemerkung "...das Ziel ist nicht die organisatorische Vereinigung von Ost- und Westgewerkschaften, sondern die Aufnahme der DDR-Gewerkschaftsmitglieder in die jeweils zuständigen DGB-Gewerkschaften" so nicht ganz richtig.

Die in der DDR existierenden Landesverbände Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden in die GEW-Strukturen Gesamtdeutschlands aufgenommen, gleiches gilt für die in Gründung befindlichen Verbände Mecklenburg und Sachsen-Anhalt. Der Landesverband Berlin-Ost fusioniert bis Juli mit dem Landesverband Berlin-West. Wir sind also nicht bestrebt, die DDR-KollegInnen in irgendwelche "Westgewerkschaften" aufzunehmen beziehungsweise zu übernehmen, sondern sie treten in die bereits gegründeten DDR-GEW-Verbände ein beziehungsweise in den Landesverband Gesamtberlin. Die Mitgliedschaft im Landesverband Berlin kann man nur durch Einzeleintritt erwerben. (...)

Im übrigen gibt es auch ein Dokument, in dem sich GEW-Bundesvorsitzender Dieter Wunder und GUE-Zentralvorstandschef Friedhelm Busse über "Eckpunkte für eine geeinte GEW" verständigten. Dieses Dokument steht aber in Widerspruch zu gültigen DGB-Beschlüssen. In diesem Dokument heißt es unter anderem: "Die Vertreter von GUE und der GEW sind im Ergebnis einig, dass das Ziel der einheitlichen Bildungsgewerkschaft über zu schaffende GEW-Gliederungen in den künftigen Ländern der DDR anzustreben ist..."

Zur Schaffung von GEW-Strukturen in der DDR sind im Prinzip drei gleichrangige Möglichkeiten denkbar:

- dort, wo in der DDR auf regionaler Ebene GUE und GEW kooperieren, kann der Beitritt der GUE-Mitglieder zur GEW aus einer Phase der Zusammenarbeit hervorgehen. Bis zu konstituierenden Delegiertenkonferenzen mit Neuwahlen werden die Geschäfte durch gemeinsam besetzte Arbeitsgemeinschaften nach dem Konsensprinzip geführt;

- dort, wo bereits GEW-Organisationen in der DDR bestehen, können Mitglieder der GUE diesen Organisationen beitreten;

- dort, wo noch keine GEW-Organisationen in der DDR bestehen, können GEW-Neugründungen durch GUE-Mitglieder erfolgen.

Es wurde verabredet, dass in den kommenden Wochen und Monaten die Vertretung der Interessen der im Bildungsbereich der DDR beschäftigen ArbeitnehmerInnen in enger Abstimmung zwischen GUE und GEW erfolgt. "Die Vorstandsvertreter der GUE und GEW stimmen überein, dass auf dem weiteren Verhandlungsweg zu einer geeinten GEW in der DDR und bei der Abstimmung der Interessenvertretung die GW und der Rat der GEW (Organ, in dem aus allen Landesverbänden die Arbeit koordinieren. d.V.) in der DDR beteiligt werden."

In diesem Wunder/Busse-Papier gibt es eine Stellungnahme, die von den Kreisvorständen Wiesbaden und Hanau sowie den Bezirksvorständen Südhessen und Frankfurt am Main unterzeichnet sind. In dieser Stellungnahme heißt es unter anderem: "Wir lehnen es ab... GEW-Gliederungen in der DDR auf die gleiche Stufe zu stellen, wie die bloß gewendeten Staatsgewerkschaften GUE und GW der DDR. Wir lehnen es ab, den Aufbau der GEW in der DDR von der Zustimmung der GUE und der GW-Führung abhängig zu machen. GUE und GW erfahren durch diese Vereinbarung eine Aufwertung, die sowohl der Rolle beider Organisationen in ihrer Vergangenheit und Gegenwart widerspricht, als auch der Tatsache der Gründung und des Aufbaus der GEW in der DDR, die ja von den LehrerInnen der DDR gerade in Abwendung von und im Bruch mit den Strukturen, Methoden und Führungspositionen der GUE erfolgt...

Die Gründung der GEW ist von ihr (der GUE. d.V.) als eine Spaltung diffamiert worden...

Die GEW in der BRD und die GEW in der DDR diskreditieren sich selbst, wenn sie in der Öffentlichkeit die gewendeten undemokratischen und abhängigen Staatsgewerkschaften als gleichberechtigte Partner darstellen. Für wie wenig attraktiv und selbstbewusst hält sich der HV (Hauptvorstand. d.V.) der GEW, wenn er glaubt, nicht unabhängig von der GUE-Führung, Mitglieder organisieren und Interessen unserer KollegInnen in der DDR vertreten zu können.

Wir fordern vom HV der GEW die Rücknahme dieser Vereinbarungen und keine weiteren Verhandlungen mit dem Zentralvorstand der GUE."

Am 18.6.90 fand eine Mitgliedervollversammlung der GEW Berlin-Ost statt, auf der folgende Standpunkte zu dem genannten Wunder/Busse-Dokument formuliert wurden (einstimmiger Beschluss):

1. Der Aufbau von GEW-Organisationen in der DDR erfolgt nur durch einzelne Übertritte von GUE/GW-Mitgliedern.

2. Bei Neuwahlen müssen intensive Personaldebatten abgesichert werden (keine Wiederholung von GUE-Methoden).

3. Die GEW der BRD, vor allem ihr HV wird aufgefordert, sich öffentlich zu den GEW-Organisationen in der DDR zu bekennen; es wird gefordert, dass sich der HV gegen die Möglichkeit der Schaffung von GEW-Strukturen aus GUE-Strukturen ausspricht, dass der HV öffentlich erklärt, keine Funktionäre und Arbeitsverträge von der GUE zu übernehmen.

Wie Sie sehen, ist Gleichmacherei und Pauschalurteilen auch weiterhin nicht die objektivste Art der Journalistik. Basisdemokratische Gewerkschaften bestehen nicht nur aus Vorständen und der DGB nicht nur aus einem Justitiar. Die Gewerkschaftslandschaft der DDR ist unbeachtet von Journalisten breiter geworden, vielfältiger, vielleicht auch komplizierter. (...)

R. Schwarz, Pressesprecher GEW Berlin-Ost

taz, 09.07.1990

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