FDGB-Bundesvorstand
Abt. Organisation
Berlin, 26.10.1989
Verteiler:
Koll. H. Tisch
Koll. W. E(...)

Information
über Stimmung und Meinungen der Mitglieder nach der 10. Tagung der
Volkskammer der DDR

In den Arbeitskollektiven und Gewerkschaftsgruppen wird nach wie vor mit Interesse die Entwicklung in unserem Lande diskutiert.

Die Wahl des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Egon Krenz, zum Vorsitzenden des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR wird unterschiedlich aufgenommen.

Sie reicht von Zustimmung bis hin zu skeptischen Auffassungen und Ablehnung.

Mitglieder äussern, dass damit zu viel Verantwortung in eine Hand gelegt wurde.

Sie betrachten es als ungünstig, dass er alle drei Funktionen in Personalunion ausübt. Gerade die gegenwärtige Situation beweise doch, dass sich dieses Prinzip nicht bewährt hat. Vielfach wird seine Wahl als eine Übergangslösung bis zum XII. Parteitag der SED gesehen.

Die in der Erklärung des neuen Staatsratsvorsitzenden angekündigten Vorhaben, wie die Politik der Wende in unserer Gesellschaftsordnung, die Forderung nach der Notwendigkeit eines neuen Arbeitsstils der Volkskammer bis hin zu den örtlichen Volksvertretungen und die Schaffung eines Reisegesetzes für die Bürger der DDR werden begrüsst, aber auch mit einer gewissen Abwartung betrachtet.

Die Meinung von H. S(...), AGL-Vorsitzender in der Holzverarbeitung des VEB Waggonbau Dessau, steht stellvertretend für viele:

"Kollegen der AGL sind nicht damit einverstanden, dass die Macht auf Egon Krenz konzentriert wird. Sie wären dafür gewesen, dass ein anderer den Vorsitz des Staatsrates übernimmt. Zur Zeit steht die Frage, wer gibt uns die Garantie, dass diejenigen, die jahrelang nicht unseren Anforderungen gerecht geworden sind, uns nicht wieder enttäuschen."

Im Zusammenhang mit dem öffentlichen Auftreten leitender Funktionäre wird erklärt, dass sie noch vor kurzer Zeit ganz anders gesprochen hätten, ihre schnelle Wandlung unglaubwürdig sei und sie zu denen gehören, die die jetzige Lage mit verschuldeten.

Mitglieder fragen, wie es sein kann, dass Politbüromitglieder die von ihnen in der Vergangenheit selbst mit aller Konsequenz vertretene Politik jetzt so heftig kritisieren und plötzlich sogar von Personenkult um Erich Honecker reden.

Zunehmend kritische Bemerkungen gibt es zur Arbeitsweise gewerkschaftlicher Leitungen und Vorstände sowie zu mangelnder Interessenvertretung. Aus den vorliegenden aktuellen Informationen der Mehrheit der Bezirksvorstände des FDGB und den Gesprächen der Beauftragten des Bundesvorstandes in Vorständen und Leitungen sowie unmittelbar in Gewerkschaftsgruppen ist folgende Einschätzung zu treffen:

Gegenwärtig besteht bei Mitgliedern und Funktionären ein angespanntes Verhältnis zu Harry Tisch. Das reicht bis zu Forderungen seines Rücktritts.

Die Art und Weise seines Auftretens in der Elbewerft und bei Bergmann-Borsig wird abgelehnt.

Man erwartet von ihm mehr konstruktive Schritte und weniger allgemeine Erklärungen.

Die vorwiegend aus der Presse abgeleiteten Kritiken an Harry Tisch konzentrieren sich vor allem auf folgende drei Hauptfragen:

- Viele Gewerkschafter verwahren sich in bezug auf ihre eigene Arbeit entschieden gegen die Beschuldigung, an der Basis ungenügend um gewerkschaftliche Standpunkte gekämpft zu haben und unzureichend Interessenvertreter der Werktätigen zu sein.

Obwohl er als Vorsitzender das Bisherige mitentschieden hat, mache er nunmehr die Funktionäre in den Betrieben dafür verantwortlich und fordert, dass diese Praktiken aufhören. Welche Orientierung aber der Bundesvorstand dazu gibt, bleibe bis heute offen.

Die Worte, er habe sich schon jahrelang für eine ordentliche Plandiskussion eingesetzt, sind für viele unglaubwürdig. Auch der Termin für die Plandiskussion 1990 wurde weder im Betrieb noch im Kreis, sondern von der Zentrale - mit seiner Stimme - festgelegt.

- Nicht begriffen wird die angebliche "Ahnungslosigkeit", das "kluge Reden" über Probleme, die dem Bundesvorstand und seinem Vorsitzenden wahrlich bekannt sein müssten.

Das betrifft das Leistungsprinzip, den Wettbewerb, die Subventionspolitik und anderes.

Mitglieder betonen, dass er viel zu viel über die neue Verantwortung des FDGB redet, ohne dafür ein klares Konzept vorzulegen. Er verschiebe die Verantwortung von oben nach unten, positioniert sich selbst als Gewerkschafter ungenügend.

Viele fragen, wo denn der so oft gepriesene eigenständige gewerkschaftliche Beitrag bleibt, und erklären: Wenn der Vorsitzende so weitermacht, kann er sich bei der nächsten Wahl seine Funktionäre selber suchen. Eine Reihe AGL- und BGL-Mitglieder erwägen, ihre gewerkschaftliche Funktion abzulegen. Darüber hinaus muss eingeschätzt werden, dass die Anzahl der Austritte aus dem FDGB weiter ansteigt.

- Mitglieder bringen zum Ausdruck, dass sich der Vorsitzende endlich klar und unmissverständlich in der Öffentlichkeit äussern sollte und der Organisation eine Orientierung gibt.

In der Diskussion wird immer stärker die Forderung zur Klärung solcher Fragen gestellt wie:

"Weiche konkreten Maßnahmen will der FDGB einleiten?

Wer sagt uns, wofür wir 'unten kämpfen' und was wir jetzt konkret in Angriff nehmen sollen?

Wie hoch sind die Gesamteinnahmen des FDGB in jedem Monat, und wie und durch wen werden diese Gelder angelegt und verteilt?

Welche Privilegien haben Gewerkschaftsfunktionäre in der Zentrale?

Was passiert mit dem gewerkschaftlichen Mietgliederleben und der Vervollkommnung der innergewerkschaftlichen Demokratie?

Wie soll künftig mit den Schulen der sozialistischen Arbeit verfahren werden?

Welche Garantien schafft der FDGB, damit Fehler in der Wettbewerbsführung und der Gestaltung des Reproduktionsprozesses ausgeschaltet werden?

Wie soll die so oft geforderte gewerkschaftliche Hartnäckigkeit im täglichen Prozess der Interessenvertretung konkret umgesetzt werden?

Ist es richtig, bereits im September 1990 wieder Gewerkschaftswahlen in den Grundorganisationen durchzuführen, oder wäre es besser, die bestehenden BGL für die kommende Wahlperiode auf Vertrauensleutevollversammlungen und Mitgliederversammlungen zu bestätigen?"

Ein Teil der Mitglieder - insbesondere ehrenamtliche Funktionäre - bezweifeln, dass es gelingt, die Interessenvertretung wirksamer wahrzunehmen. Sie verweisen darauf, dass in der Vergangenheit ihre Standpunkte zwar angehört wurden, aber bei Entscheidungen kaum Berücksichtigung fanden. Nicht von allen wird verstanden, wie die Gewerkschaften ihren eigenständigen Beitrag zur Entwicklung des Sozialismus leisten wollen und damit zugleich die Ziele der Partei anerkennen und unterstützen. Es kommt zu Äusserungen, dass sie sich von der Partei lossagen und mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit haben müssten.

gez.
W. E(...)

Δ nach oben