Wir haben uns frei gemacht von geistiger Bevormundung

Interview diesmal mit BGL-Vorsitzenden Günter W(...)

Frage: "Wir fordern eine unabhängige und freie Gewerkschaft" - war ein Standpunkt der Vertrauensleutevollversammlung der Gewerkschaftsmitglieder unserer Einrichtung am 31. Oktober 1989. Inzwischen hat sich der Bundesverband des FDGB ebenfalls so positioniert. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Gewerkschaftsarbeit auch in unserem Hause?

Antwort: Auf dem 3. FDGB-Kongress 1950 hat sich die Gewerkschaft unter anderem zur Anerkennung der führenden Rolle der SED in ihrer Arbeit bekannt. Nach diesem Prinzip haben wir bisher gearbeitet. Die aktuellen Ereignisse der letzten Wochen, vor allem die tiefe Krise in der SED selbst, hat uns in der eigenen Grundorganisation vor die Frage gestellt, ob wir an diesem Prinzip länger festhalten können, wenn wir das Vertrauen unserer Mitarbeiter nicht völlig verlieren wollen.

Auf der genannten VVV haben wir uns einstimmig dafür ausgesprochen, die Gewerkschaft wieder zu dem zu machen, was sie ursprünglich war - nämlich eine freie Massenorganisation, die weder unter der Führung der SED noch unter Führung einer anderen Partei künftig arbeiten wird. Mit anderen Worten, wir haben uns frei gemacht von einer geistigen Bevormundung durch die Parteiführung. Eine persönliche Konsequenz war mein Austritt aus der Parteileitung. Weitere Konsequenzen werden sein, dass wir in Vorbereitung der Gewerkschaftswahlen unsere Mitglieder frei über ihre Interessenvertreter der Gewerkschaft entscheiden lassen. Dabei spielt die Zugehörigkeit zu einer Partei keine Rolle.

Frage: Welche Vorstellungen gibt es zu inhaltlichen Schwerpunkten der zukünftigen Gewerkschaftsarbeit?

Antwort: Oberstes Gebot ist die konsequente Wahrung der Interessen unserer Mitglieder in allen arbeitsrechtlichen und tariflichen Fragen sowie Arbeits- und Lebensbedingungen. Die Gewerkschaft wird künftig ein streitbarer Kontrahent der staatlichen Leitung sein. Ein aktuelles Beispiel dafür: Gegenwärtig beginnt die staatliche Leitung im Bereich der Verwaltung unserer Einrichtung Rationalisierungsmaßnahmen durchzusetzen. Wir werden nicht dulden, dass gegen das gültige AGB verstoßen wird. Das heißt, vor jeder geplanten Umsetzung muss mit dem Werktätigen und seinem Kollektiv mindestens drei Monate vorher gesprochen werden. Wir fordern, dass unseren Mitarbeitern ein Änderungsvertrag angeboten wird entsprechend seiner Qualifikation und persönlichen Interessen. Dabei werden wir nicht zulassen, dass ihm aus dieser Maßnahme persönliche Nachteile erwachsen wie beispielsweise Lohnkürzung, Verringerung des Urlaubs.

Frage: Wird es noch einen Wettbewerb geben?

Antwort: In einem Offenen Brief der Gewerkschaft Gesundheitswesen wird formuliert, dass der Wettbewerb dort geführt werden soll, wo er sinnvoll ist und die Mitarbeiter ihn wollen. Meine Auffassung ist, den bisherigen Wettbewerb in seiner jetzigen Form 1990 einzustellen. Es ist denkbar, dass wir uns mit unseren Mitgliedern darüber verständigen, ihn als eine Methode der Leistungserfassung und -bewertung zu nutzen.

Frage: Aufwand und Nutzen der Gewerkschaftsarbeit hat in der Vergangenheit zu Dispositionen geführt. Wie sollen diese überwunden werden?

Antwort: Wir sind dabei uns von unnötigem Ballast zu trennen. Es geht um die Frage "Was trägt dazu bei, echte Fortschritte in der Erneuerung, der Gewerkschaftsarbeit zu bewirken?"

Unter anderem gehörst dazu gewerkschaftliche Kommissionen aufzulösen, die keinen Nutzen erbrachten. So zum Beispiel die Kommission Agit/Prop., Sportkommission, Jugendkommission. Die Schulungsarbeit ist rationeller zu gestalten und auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Gleichzeitig ist die Qualität der Anleitung zu verbessern. Auf ausführliche schriftliche Berichterstattung wird zukünftig verzichtet. Gleichzeitig ist die Wirksamkeit insbesondere auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bedeutend zu erhöhen. Hierbei kommt den Konfliktkommissionen, Rechtskommissionen und Arbeiterkontrollen eine größere Bedeutung zu.

aus: Okular, 11/89, November-Ausgabe, Bezirkskrankenhaus "Wilhelm Pieck" Cottbus, Herausgeber: Bezirkskrankenhaus "Wilhelm Pieck" Cottbus

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