Offener Brief ans NEUE FORUM

Alles über Bord?

Werter Herr K(...)!

Als Vertrauensmann der Abteilungen Feriendienst und Sozialpolitik des FDGB-Bezirksvorstandes möchte ich auf eine Ihrer Forderungen eingehen. Sie gehen davon aus, dass eine Erneuerung unserer Gesellschaft nur dadurch möglich ist, indem der gesamte "Apparat" ausgetauscht bzw. erneuert wird. Jedenfalls erhoben Sie eine entsprechende Forderung auf der Kundgebung am 2. Dezember vor dem Karl-Liebknecht-Forum.

Ich stimme Ihnen zu, dass sich gewählte Funktionäre des Vertrauens erweisen müssen, auch Gewerkschaftsfunktionäre. Und dabei kämpfen müssen, um als Interessenvertreter ihrer Kollegen anerkannt zu werden. Aber nunmehr davon auszugehen, dass all und jeder erneuert werden muss, das kann, glaube ich, nicht gut gehen.

Hat die Gewerkschaft nicht in 4 Jahrzehnten so manches für die Werktätigen erreicht? Ich denke dabei an das Arbeitsrecht, die Sozialversicherung, den Feriendienst. Viele unserer Mitarbeiter aller Ebenen haben gearbeitet, persönliches zurückgestellt, und waren oftmals auch unzufrieden, weil vieles nicht schnell genug voranging, es bestehende Strukturen nicht zuliefen. Und nicht zuletzt holten sich viele dabei auch Beulen. Auch uns hat es nicht gefallen, dass statt Ferienheimen Gästehäuser gebaut wurden.

Kann es richtig sein, bewährte Formen gewerkschaftlicher Interessenvertretung zerschlagen zu wollen und dabei soziale Errungenschaften aufs Spiel zu setzen? Vielmehr sollte es doch darum gehen, Bewährtes zu erhalten und auszubauen und natürlich auch Überholtes dabei über Bord zu werfen. Wir stellen uns erforderlichen strukturellen Veränderungen, glauben aber, dass gerade jetzt viel Arbeit auf fachlich kompetente erfahrene Mitarbeiter zukommt.

Messen Sie also nicht die Gewerkschaft an einem Herrn Tisch und seinesgleichen. Sie haben nicht nur die Werktätigen, sondern auch die vielen ehrlichen Gewerkschaftsfunktionäre tief enttäuscht.

WOLFGANG G(...),
Potsdam

aus: Märkische Volksstimme, Nr. 290, 09.12.1989, 44. Jahrgang, Sozialistische Tageszeitung im Bezirk Potsdam, Herausgeber: Bezirksleitung Potsdam der SED