Wenn die Abgeordneten der Volkskammer heute zum 2. Teil der 14. Tagung zusammenkommen, wird die Aussprache über die am Donnerstag abgegebene, mit Spannung erwartete Regierungserklärung von Premier Modrow im Mittelpunkt stehen. Sie war zweifellos einer der wichtigsten jener insgesamt 17 Punkte umfassenden Tagesordnung des ersten Beratungstages - ein Mammutprogramm, dem sich die Abgeordneten mit Sachlichkeit und großer Verantwortung widmeten.

Um 9 Uhr eröffnete Volkskammerpräsident Dr. Günther Maleuda die 14. Tagung. An den von der nationalen und internationalen Presse stark beachteten Beratungen des Hohen Hauses nahmen auch Vertreter des Runden Tisches teil.

Die oberste Volksvertretung entsprach der Bitte des Ministerpräsidenten, Generalleutnant Dr. Wolfgang Schwanitz, Dr. Hans-Joachim Heusinger, Dr. Gerhard Schürer und Dr. Hans Reichelt als Mitglieder der Regierung abzuberufen und wählte Prof. Dr. Kurt Wünsche, Dr. Hans-Joachim Lauck und Dr. Peter Diederich gegen drei Stimmen bei sechs Enthaltungen zu Mitgliedern des Ministerrates der DDR.

Dr. Hans-Jürgen Joseph, vom amtierenden Staatsratsvorsitzenden als Generalstaatsanwalt der DDR vorgeschlagen, wurde gegen 12 Stimmen bei 31 Enthaltungen in dieses Amt berufen.

Vizepremierministerin Prof. Christa Luft begründete dann Vorschläge zu Änderungen und Ergänzungen der Verfassung, um neue Formen der internationalen Arbeitsteilung zur Steigerung der Leistungskraft der Volkswirtschaft zu ermöglichen. Prof. Luft sprach davon, dass gesetzliche Regelungen zur Beteiligung ausländischen Kapitals an Unternehmen aller Eigentumsformen in. der DDR Möglichkeiten eröffne, dieses Kapital zu nutzen. Dabei müssen sowohl die Interessen der Kapitalanleger als auch der DDR gesichert werden.

Die Aussprache zu dem Gesetzesentwurf, in die Vorschläge der Volkskammerausschüsse und der am Runden Tisch beteiligten Parteien und Gruppierungen eingehen werden, wird am Freitag stattfinden.

Dann ging es erneut ums Reisen. Den veränderten Entwurf des Reisegesetzes sowie den Entwurf des Gesetzes zur Anpassung von rechtlichen Regelungen zum Reisegesetz begründete der Minister für Innere Angelegenheiten, Lothar Arendt. In der ersten Durchführungsverordnung ist die Regelung enthalten, dass im Personalausweis für Bürger der DDR erteilte Visa unabhängig von der darin enthaltenen Gültigkeit bis zum 31. Dezember 1990 zum Grenzübergang berechtigen, sagte der Minister.

Die Abgeordneten verabschiedeten nach zweiter Lesung das Reisegesetz mit einer Gegenstimme und drei Stimmenthaltungen. Einstimmig wurde das Gesetz zur Anpassung von rechtlichen Regelungen verabschiedet.

Verteidigungsminister Theodor Hoffmann begründete den Gesetzentwurf über den Zivildienst in der DDR. Der zu schaffende Zivildienst stimme auch mit den Schritten der Abrüstung und militärischen Vertrauensbildung überein und entspreche gesellschaftlichen Erfordernissen. Er sei von wehrpflichtigen männlichen Bürgern zu leisten, die aus Glaubens- oder Gewissensgründen den Dienst - mit der Waffe ablehnen. Der Zivildienst soll um sechs Monate länger sein als der Wehrdienst.

Der Gesetzesentwurf wird nun in sechs Ausschüssen erörtert und auf der 15. Tagung des Parlaments in zweiter Lesung behandelt.

Im Auftrag des Ministerrates begründete Leichtindustrieminister Dr. Gunter Halm den Entwurf des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung des Handwerks. Hauptziel der Regierung, so war seinen Worten zu entnehmen, sei, mit den notwendigen Veränderungen im Recht Hemmnisse für Initiativen, steigende Leistungen sowie die stärkere Eigenverantwortung des genossenschaftlichen und privaten Handwerks zu beseitigen. Die im Dezember 1989 eingeleiteten Maßnahmen wertete er in diesem Zusammenhang als erste Schritte und Übergangslösungen. Sie seien bei Handwerkern auf Zustimmung, aber auch auf Ablehnung gestoßen.

Als nächster Schritt werde ein überschaubares Rahmengesetz für Handwerk und Gewerbe ausgearbeitet, dessen Entwurf noch im ersten Halbjahr 1990 zur Diskussion vorgelegt wird. Der Volkskammerausschuss für Industrie, Bauwesen und Verkehr stimme dem Gesetzentwurf zu, informierte dessen Mitglied Alfred Grandke (LDPD). Er drängte jedoch darauf, noch im Jahre 1990 ein perspektivisch angelegtes Handwerkergesetz zu erarbeiten. Auf Anfragen von Mitgliedern der Fraktionen von LDPD, CDU und SED-PDS sagte Finanzministerin Gitta Nickel, entscheidend seien die Veränderung der tatsächlich zu hohen Steuerprogression für Handwerk und Gewerbe, die Schaffung von Produktionsanreizen, mehr Steuergerechtigkeit für alle und Steuerreduzierungen. Sie kündigte noch für 1990 wirksame Maßnahmen dazu an. Mit zwei Gegenstimmen und zwölf Stimmenthaltungen wurde das Gesetz beschlossen.

Auch ein neu gefasstes Luftfahrtgesetz, das Verkehrsminister Heinrich Scholz begründet hatte, fand ohne Debatte Zustimmung. Das neue Gesetz erlaubt das Betreiben von Hängegleitern - das sogenannte Drachenfliegen - und anderen ähnlichen Geräten. Von politisch größerer Tragweite sodann die von Innenminister Lothar Arendt begründete Änderung des Gesetzes über die Staatsbürgerschaft der DDR. Künftig sei das Ausscheiden aus der Staatsbürgerschaft nur. noch durch Verzicht des Bürgers möglich, wenn dieser seinen ständigen Wohnsitz außerhalb der DDR genommen und eine andere Staatsbürgerschaft gewählt habe. Auf der Tagesordnung der 15. Tagung der obersten Volksvertretung steht die zweite Lesung.

Zum Thema freie Wahlen entschieden die Abgeordneten, dass die laufende Wahlperiode am 5. Mai 1990 endet. Dem Staatsrat wurde empfohlen, die Wahlen für die Volkskammer für den 6. Mai dieses Jahres auszuschreiben. Auf die Frage des LDPD-Abgeordneten Lothar Simon, warum nicht auf allen Ebenen Wahlen stattfinden sollen, erklärte der Vorsitzende des zeitweiligen Ausschusses zur Ausarbeitung eines Wahlgesetzes, Dr. Paul Eberle, dass die Kürze der Zeit keine ordentliche organisatorische und technische Vorbereitung erlaube.

Dann gab Prof. Dr. Manfred Mühlmann einen Bericht der Kommission .zur Änderung und Ergänzung der Verfassung. Das Gremium vertrete die Auffassung, dass mit einer Veränderung und Ergänzung der jetzigen Verfassung langfristig keine ausreichenden rechtlichen Grundlagen geschaffen werden können. Erforderlich sei die Ausarbeitung einer völlig neuen Verfassung, die die tiefgreifende revolutionäre Veränderung der Gesellschaft der DDR mit juristischen Mitteln fördert.

Eine neue Verfassung, über die nach umfassender öffentlicher Diskussion durch eine Volksabstimmung entschieden werden konnte, stünde nach Meinung des Abgeordneten Mühlmann wahrscheinlich frühestens im Herbst zur Verfügung.

Über die Vorbereitung eines neuen Wahlgesetzes berichtete der LDPD-Abgeordnete Dr. Paul Eberle. Einheitslisten in jeder Form wurden abgeschafft und die Gleichstellung von Parteien und Massenorganisationen beseitigt. Es werde gesichert, dass der Wähler die Möglichkeit hat, zwischen verschiedenen Parteien, Vereinigungen, Programmen und ebenfalls Personen nach eigener innerer Überzeugung frei zu entscheiden. Keine Partei oder Vereinigung habe die Garantie auf eine Mehrheit oder Mandate in vorher festgelegter Zahl. Das Wahlgeheimnis und die öffentliche Kontrolle aller amtlichen Wahlhandlungen werden gewährleistet.

Die Volkskammer sollte künftig aus 400 Abgeordneten bestehen, die für vier Jahre gewählt werden. Beispielsweise könnten 280 auf der Grundlage des Verhältnis- und 120 nach dem Mehrheitswahlrecht in direkter Wahl von Personen gewählt werden. Jeder Wähler verfüge über zwei Stimmen, mit der ersten wähle er einen Kandidaten in einem Wahlkreis und die Zweitstimme gebe er für eine Liste, etwa so wie in der BRD. Für die Volkskammerwahlen schlage der Ausschuss 15 Wahlkreise entsprechend der Bezirksstruktur vor. Die Benutzung der Wahlkabine werde allen Wählern zur Pflicht gemacht. Auch sei "Fremdfinanzierung" verboten. Im Anschluss an die Erläuterungen kritisierten Abgeordnete, dass zwar dem Runden Tisch, aber noch nicht ihnen der Gesetzentwurf bekannt sei.
(Neues Deutschland, Fr. 12.01.1990)

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