Worum geht es der Bürgerinitiative?

Demonstrationen in Plauen - sie gehören mittlerweile zum politischen Alltag. Dass die vom 7. Oktober trotz massiven Vorgehens der Polizei, trotz zahlreicher Verhaftungen ein friedliches Ende nahm, ist, Herr Superintendent, nicht zuletzt Ihrem beherzten Eingreifen zu danken

Thomas Küttler: Das kann man so sagen. Die Situation in unserer Stadt spitzte sich spürbar zu, wohl auch, weil bereits Tage vorher die Züge mit Ausreisewilligen, aus der ČSSR kommend, unser Territorium passierten. An dem bewussten Datum hatte sich eine große Menschenmenge vor dem Rathaus eingefunden, es bestand wirklich die Gefahr, dass die friedlich begonnene Demo außer Kontrolle geriet Ich habe mich vor die Leute gestellt, mit ihnen geredet. Obwohl das in erster Linie Aufgabe des Oberbürgermeisters Dr. Martin gewesen wäre. Leider ist er trotz mehrmaliger Aufforderung meinerseits nicht aus seiner Amtsstube herausgekommen. Wer auch immer ihm dazu geraten hatte, es war kein guter Ratschlag.

Was hat die Bürger noch bewogen, auf die Straße zu gehen?

Klaus Gerstner: Ich möchte noch einmal auf die Transitzüge zu sprechen kommen. Unsere Söhne, Töchter, Verwandten, Freunde und Kollegen saßen da mit drin: Sie hatten sich ihren Weg in die Freiheit gewählt, und wir konnten sie nicht zurückhalten, zum Bleiben bewegen, obwohl wir sie so dringend brauchten. Das hat uns zornig und deprimiert zugleich gemacht.

Dr. Hartmut Seidel: Zudem waren wir und sind wir frustriert wegen der schlechten Versorgungslage oder auch darüber, wie Behörden mit uns umgegangen sind. Ich denke da beispielsweise an die Bearbeitung von Anträgen auf besuchsweise Ausreise in die BRD oder nach Berlin West. Trotz konkreter Vorgaben laut Reisegesetz erteilten sie die Genehmigungen nach einem nicht zu durchschauenden Schema. Wir standen diesen Machenschaften hilflos gegenüber. Das erzeugte, ich möchte das harte Wort ruhig gebrauchen, Hass.

Thomas Küttler: Einen weiteren Punkt dürfen wir nicht verschweigen. Nach wie vor fordern wir die Offenlegung der Wahlergebnisse. Die Wahlkommission verkündete offiziell 4,8 Prozent Gegenstimmen. Wir sind uns absolut sicher, dass diese Angabe nicht stimmt, denn ganze Betriebskollektive, Wohnbezirke haben unter anderen in den Sonderwahllokalen gegen die Kandidaten der Nationalen Front gestimmt. In diesen Einrichtungen wurde jedoch unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgezählt, schon deshalb sind wir sicher, dass das zugegebene Ergebnis nicht stimmt.

Unmittelbar nach dem 7. Oktober entstand die Bürgerinitiative Plauen. Welche Ziele verfolgt sie?

Thomas Küttler: Ich hatte zu ihrer Gründung aufgerufen und war selbst von der Größe des Echos überrascht. Mehrere hundert trugen sich in die Listen ein. Das machte es schwer, mit allen zu verhandeln. Wir einigten uns auf 25 Sprecher, die sich als öffentliches Sprachrohr, als Verbindung zum Rat der Stadt verstehen.

Dr. Hartmut Seidel: Wir waren bereits zu mehreren Gesprächen beim Oberbürgermeister, wir legten ihm unsere Anforderungen zu konkreten Tagesordnungspunkten dar. Einige möchte ich nennen:

1. Der Führungsanspruch der SED soll nicht in der Verfassung festgeschrieben sein,

2. Durchführung freier Wahlen,

3. Weitreichende ökonomische und ökologische Entscheidungen, um die Umweltsituation in der Stadt zu verbessern.

Man spricht in diesen Tagen viel von der Stellvertreterfunktion der Kirche. Herr Superintendent, fühlen Sie sich in diese Rolle gedrängt?

Thomas Küttler: Das möchte ich ganz entschieden verneinen. Ich verstehe mich als Vermittler zum Rat der Stadt. Ich habe da, wo staatliche Stellen erst einmal versagt und keine Antwort auf drängende Fragen der Bürger gewusst haben, gehandelt, die erhitzten Gemüter beschwichtigt. Das betrachte ich nicht als Stellvertreterfunktion. Das politische Mandat der Kirche ist begrenzt. Wir haben demzufolge auch nicht das Recht, politische Mittel zu verwenden, zu Demos aufzurufen, aber wir unterstützen sie. Wir können keinem sagen, was er zu tun hat, wir können nur raten, eben vermitteln, in dem Sinne, der durch die Bibel belegt ist.

Welchen Standpunkt vertritt Ihrer Meinung nach der Oberbürgermeister?

Thomas Küttler: Als Vertreter der Kirche bin ich seit Jahren im Gespräch mit Dr. Martin. Ich habe ihn während unserer Begegnungen immer wieder auf diese oder jene Diskrepanz aufmerksam gemacht. Er muss nun bekennen, dass er vieles nicht so ernst genommen hat. Trotzdem möchte ich eine Lanze für ihn brechen. Er hat innere Haltung gezeigt, verhielt sich kooperativ, er bemühte sich, in seiner Stadt Veränderungen herbeizuführen, die den Bürgern dienen.

Dr. Hartmut Seidel: Wichtig ist, dass der Oberbürgermeister jetzt Farbe bekennt, dass er sich an die Spitze derer stellt, die eine Aufklärung der Ereignisse vom 7. Oktober fordern.

Klaus Gerstner: Abberufungen aus Ämtern, wie wir sie fast täglich erleben, sind zwar richtig. Aber nicht jeder, der versagt hat, sollte den Hut nehmen. Wir alle gemeinsam, auch die, die Hauptschuld an der Krise tragen, in der sich unser Land befindet, müssen uns offen und ehrlich, ohne Vorbehalte Personen gegenüber an die Erneuerung machen.

aus: Neue Zeit, Jahrgang 45, Ausgabe 282, 30.11.1989, Zentralorgan der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

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