"SZ" sprach gestern Mittag mit Teilnehmern am Warnstreik in Dresdner Betrieben

Wir wollen mit dieser Aktion zeigen, wie ernst es uns ist

Hochvakuum-Kollegen als Streikaufrufer

Dresden-Süd. Etwa 4 000 Werktätige aus Betrieben und Einrichtungen von Dresden-Prohlis waren gestern dem Aufruf von Kollegen der Sonderanfertigung des VEB Hochvakuum Dresden gefolgt und demonstrierten durch Prohlis. Joachim B(...), einer der Mitorganisatoren: Wir sind mit dem Tempo der Entwicklung in unserem Land nicht zufrieden, Reformen müssen schneller für die Leute sichtbar werden. Für eine Auflösung der SED/PDS sowie endgültige Beseitigung des Stasiapparates hatten sich auch Christa A(...) und Christel R(...), beide im VEB Carl Zeiss Jena tätig, dem Warnstreik angeschlossen. Rolf R(...) vom BMK Dresden meinte, dass das, was die Regierung bisher unternommen hat, zu langsam geht. Auch möchten sie mit ihrem Streik den Oberbürgermeister unterstützen, weil er ein Mann mit Courage ist. Auf die Frage, was sie dazu meinen, dass Prinzen und Grafen - wie die Bild-Zeitung berichtete - ihre Schlösser wie z. B. Moritzburg wiederhaben wollen, kurze Antwort: Sie haben keinerlei Anspruch! Außerdem wären bei uns die "Prinzen" gerade entmachtet worden. Ursula G(...) aus der Küche des Feierabendheimes Prohlis: Geredet wurde genug, jetzt muss gehandelt werden. Dabei bin ich dafür, dass wir DDR bleiben. Die Sicherheitspartnerschaft auch in solchen Fällen unter Beweis zu stellen, dafür sprach sich VP-Leutnant Klaus H(...) aus, der mit dafür sorgte, dass der Verkehr so wenig wie möglich beeinträchtigt und die Sicherheit der Demonstranten gewährleistet wurde. Der Demozug verlief diszipliniert, allerdings bewegte sich der Marsch entgegen vorheriger Pläne ein Stück entlang der stark befahrenen F 172.

Vom Backofen an die Straße

Betrieb Dresden des VE Backwarenkombinates: Bäcker, Konditoren, Instandhalter und weitere Kollegen treffen sich an der verkehrsreichen Kreuzung Blasewitzer/Fetscherstraße mit anderen Werktätigen Franz S(...) und Hartmut N(...) von der Hauptmechanik, Heizer Dieter N(...):

Warum wird nicht konsequenter mit denen abgerechnet, die das Land zugrunde gewirtschaftet haben? Auch die ehemalige SED-Bezirksleitung muss aufgelöst werden. Die vielen Arbeitskräfte müssen in die Betriebe, auch aus dem großen Verwaltungsapparat des FDGB-Bezirksvorstandes. Wiederholte Forderung: hundertprozentige Auflösung der Staatssicherheit. Auch für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen sind die Kollegen auf der Straße. Konditor Jens M(...):

"Für diese absolut veraltete Technik ein unmöglich hoher Plan. Da kommt nicht die Qualität, die die Leute wollen." Einheitliche Tarife für alle fordert BGL-Vorsitzender Heinz W(...):

"In der Lebensmittelindustrie wird mindestens genau so hart gearbeitet wie bei Robotron." Schlecht, dass sich niemand von der Kombinats- und Betriebsleitung hier blicken lässt. Einhellige Meinung: Mit diesem Warnsignal keinen Schaden, keine Versorgungslücke verursachen. Für 250 bis 350 Verkaufsstellen u. a. 435 000 Stück Kuchen und rund 1 000 Torten, daran sollte es auch gestern keine Abstriche geben.

Werkstatt Tolkewitz: "Schuss vor den Bug"

Straßenbahnhof Tolkewitz. 13 Uhr verlassen die in der Straßenbahn-Instandhaltung tätigen Männer und Frauen, auch Angestellte, die Hallen. Die Forderungen decken sich im wesentlichen mit denen von Hochvakuum. Ende voriger Woche hatten sie zu 99 Prozent beschlossen, sich am Warnstreik zu beteiligen, so Instandhaltungs-Chef Rainer P(...). "Wir halten den Streik für das letzte Mittel zur Durchsetzung berechtigter Forderungen, wollen aber mit dieser Stunde Warnstreik den Verantwortlichen einen Schuss vor den Bug geben. Wir hängen die ausgefallene Zeit gleich an den Schichtschluss dran, so dass im Grunde kein ökonomischer Schaden entsteht."

Triebwagenführer Peter S(...) hat sein Fahrzeug gestoppt, so dass auch die nachfolgenden Züge zum Stehen kommen. "Im Straßenbahnhof Trachenberge haben sich 15 Fahrer für den Streik, 4 dagegen ausgesprochen. Ich bin dafür, um nachdrücklicher auf bessere Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen." Bernd J(...) vom Straßenbahnhof Tolkewitz hingegen meint: "Ich wäre weitergefahren, wenn die Strecke frei gewesen wäre. Viele Leute haben dringende Termine, die bringen kein Verständnis für den Streik auf. Wir Fahrer müssen berechtigte Forderungen anders durchsetzen."

Und die Betroffenen? Ebenso konträr. Herr G(...): "Das dürfte es nicht geben!" Frau B(...) dagegen: "Ich bin zwar mächtig in Eile, aber ich verstehe die Fahrer. Die wollen doch nur, dass vieles schneller in Ordnung gebracht wird, und das will ich ja auch."

Stippvisite nach Schichtschluss: Reger Betrieb. Es wird nachgearbeitet.

Sanitätsfahrzeuge wurden dennoch bedient

Intertankstelle Wiener Straße Dresden. Wie ausgestorben wirkt das Gelände. Im Haus die Kollegen und der Leiter, Siegfried B(...). Sie haben sich dem Warnstreik von Belegschaften Dresdner Betriebe und deren politischen Forderungen angeschlossen. "Wir wollen vor allem darauf aufmerksam machen, dass der Rat der Stadt endlich eine Entscheidung fällt, wo nun das neue Minoltanklager gebaut wird. Auch unsere Einfahrt muss verändert werden, wollen wir die Autostaus abbauen. Wir verkaufen immerhin täglich weit über 100 000 Liter an Kraftstoffen. Wir erwarten Entscheidungen."

Und was sagten die dazu, die zwischen 13 und 14 Uhr hier tanken wollten?

Bernd S(...) aus Freiberg: Quatsch ist das. Jeder Streik macht Schaden.

Werner H(...) aus Dresden: So lange die SED/PDS noch Machtpositionen hat, finde ich das gut. Da warte ich eben. Mein Betrieb, das Reifenwerk, hat sich ebenfalls dem Warnstreik angeschlossen.

Christian W(...) aus Dresden: Ich bin zwar dafür, das was in Bewegung bleibt. Aber volkswirtschaftlich nutzen uns meines Erachtens solche Aktionen nicht. Nur durch Arbeit kommen wir aus der Talsohle wieder heraus.

Sanitäts- und Versorgungsfahrzeuge sowie Reisebusse wurden allerdings während des Warnstreiks versorgt.

aus: Sächsische Zeitung, Nr. 21, 25.01.1990, 45. Jahrgang, Tageszeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur, Herausgeber: Verlag Sächsische Zeitung

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