Ausländer raus?

Neben manchem anderen lässt die neue Situation in unserem Land auch bisher verdeckte Tendenzen von Ausländerfeindlichkeit offener zutage treten. Was sie davon halten, wollten wir von denjenigen erfahren, die es wissen müssen. Wir befragten in- und ausländische Werktätige unseres Betriebes, die seit Jahren zusammenarbeiten.

Rita S(...), Streckerin, Werk Falkenau: Unsere C-Schicht ist nun schon seit acht Jahren international besetzt, zurzeit mit 13 Kolleginnen und Kollegen aus Polen, Vietnam und Mocambique und 7 Deutschen. Sicher gab es mit dem einen oder anderen am Anfang Schwierigkeiten, weil die Arbeit ungewohnt war, aber bis jetzt ist noch bei jedem irgendwann "der Knoten geplatzt". Konsequenz ist schon nötig, da gibt es keine Unterschiede zwischen Ausländern und Deutschen. Letzteres gilt genauso für das Brigadeleben. Wir wandern zusammen, haben Fasching gefeiert und planen eine BRD-Fahrt.

Viele der Mädchen würden wir am liebsten nach ihren fünf Jahren bei uns gar nicht mehr weglassen.

Malgorzata P(...), Streckerin, Falkenau: Ich bin 1985 aus meiner Heimatstadt Bialystok gern in die DDR gekommen. Mir gefällt ihr Land, natürlich auch das Warenangebot und was sich in den letzten Monaten hier geändert hat. Aus Polen weiß ich, wie schwer sich das Leben verbessern lässt. Das geht nur durch Arbeit, und dazu bin ich hier. Mir gefällt es in Falkenau und in der Brigade, wir hatten noch keine Probleme. Wenn wir zum Beispiel in den Freiwochen nach Hause fahren, verstehen alle, dass wir gern noch ein oder zwei Tage Urlaub anhängen möchten.

Lothar O(...), stellvertretender Werkleiter, Hohenfichte: Ob es ans der Sicht der gesamten Volkswirtschaft klug war, so viele Ausländer ins Land zu holen, erscheint mir zutiefst fraglich, wenn ich nur an die Reise- und Unterbringungs- und Betreuungskosten denke. Aber für diese Entscheidung der damaligen Regierung dürfen jetzt auf keinen Fall die ausländischen Arbeiter verantwortlich gemacht werden, auch wenn sie noch so bereitwillig in die DDR gekommen sind. Zu unseren 29 vietnamesischen Werktätigen in Hohenfichte haben wir fast ausschließlich ein gutes Verhältnis. Wenn sich einer zu viele Freiheiten erlauben darf, zum Beispiel bei Urlaub, Krankschreibung, oder Schwarzhandel, liegt das doch letztlich auch an unserer Inkonsequenz. Aber das betrifft ja nicht nur Vietnamesen.

Samuel M(...), José C(...), Kolonnenführer/Spinner, Flöha: Freunde hatten uns schon viel von der DDR erzählt. Deshalb haben wir uns in der Schule für eine Ausbildung hier angemeldet. Über die Arbeit in der Brigade "Fortschritt" können wir nur Gutes sagen. Manchmal kann unsere Meisterin Kollegin P(...) auch ganz schön streng sein, aber sie behandelt alle gleich. Wenn man uns in der Stadt als Neger beschimpft, bleiben wir gelassen - in jedem Land gibt es doch unterschiedliche Menschen.

Marietta B(...), Abzieherin, Flöha: Ausländerfeindlichkeit finde ich Mist. Mir ist völlig egal, wo jemand herkommt, wenn er nur ordentlich arbeitet. Und das tun unsere fünf Mocambiquer und drei Vietnamesen in der Rotschicht fast alle, auch wenn es nicht von Anfang an so gut lief. Sie haben nun einmal von zu Hause ganz andere Gewohnheiten, aber ich meine, man muss sich auch auf die Sitten im Gastgeberland einstellen. Darauf drängen wir schon, verstehen uns aber trotzdem prima. So gab es zum Nikolaus für jeden ein Geschenk aus der Brigadekasse.

Nguyen T(...) N(...) A(...), Spinnerin, Gückelsberg: Ich war Kindergärtnerin in Ho-Chi-Minh-Stadt und bin 1988 erwartungsvoll in die DDR gekommen, wollte Land, Natur und Menschen kennen lernen. Auf Arbeit gab es auch keine Probleme, denn die Kolleginnen in der Grünschicht sind fast alle älter; und sehr nett. Aber warum sind viele junge Leute, die uns gar nicht kennen, so unfreundlich? Wir arbeiten doch hier und möchten unser Geld natürlich auch ausgeben. Sogar der Betriebsarzt ist schon abweisend, bevor er uns überhaupt untersucht hat...

Angst um unsere Arbeitsplätze?

Gegenwärtig arbeiten 2 150 ausländische Werktätige aus fünf Nationen im VEB VBSZ Flöha, darunter 430 Werktätige im Betrieb Flöha und 121 Werktätige im Betrieb Oederan. Das heißt, jeder vierte Produktionsarbeiter ist ein ausländischer Werktätiger. In einigen Betrieben wie Gelenau oder Burgstädt sogar jeder zweite oder dritte Werktätige. Im Werk Flöha gibt es zurzeit 70 freie Arbeitsplätze, die nicht oder z. Z. noch nicht besetzt werden können, welche vorwiegend im 3-Schicht-Rhythmus angesiedelt sind. Unsere ausländischen Werktätigen arbeiten alle im 3-Schicht-System oder in rollender Woche.

Wenn ich heute verstärkt den Ruf höre "Ausländer raus!", so halte ich diesen für unüberlegt und für gesellschaftlich nicht tragbar. Unser Betrieb wird derzeit erstmals vor große Probleme gestellt, weil die Regierung Kubas kurzfristig innerhalb eines Jahres alle ihre Werktätigen in ihr Heimatland zurückdelegiert.

Das heißt, auf unserem Betrieb werden dieses Jahr 250 ausländische Werktätige abgezogen, welche derzeit durch inländisches Arbeitsvermögen nicht ersetzt werden können. Anreisen anderer ausländischer Werktätiger sind zurzeit auch nicht gesichert. Die Gewinnung von Lehrlingen ist ebenfalls kompliziert und weiter rückläufig. Zur jetzigen Situation kann man in unserem Betrieb deshalb ganz eindeutig einschätzen, dass kein ausländischer einem inländischen Werktätigen seinen Arbeitsplatz wegnimmt.

Unsere ausländischen Werktätigen vollbringen seit Jahren gute Leistungen in unserem Betrieb und trägen somit zur Sicherung der Planerfüllung bei. Sicher haben wir Nachholebedarf, was die Fragen der Effektivität und vor allem der Qualitätsarbeit betrifft. Dabei müssen wir uns immer im klaren sein, dass die ausländischen Werktätigen nur so gut arbeiten, wie wir es ihnen anerzogen haben bzw. vorleben.

Auch künftig werden unsere ausländischen Werktätigen in keiner Form, auch nicht teilweise, mit Valutamitteln entlohnt. Es gilt nach wie vor der Grundsatz: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

B(...),
SB d. BD und Leiter
Abt. ausländische Werktätige

aus: Betriebszeitung der Werktätigen des VEB VBSZ Baumwollspinnerei Flöha und der Zwirnerei und Nähfadenfabrik Oederan, Nr. 2/90, 35. Jahrgang, 2. Januar-Ausgabe


Was bedeutet "Transfer" bei ausländischen Werktätigen?

Mit Bezug auf unseren Beitrag "Angst um unsere Arbeitsplätze?" in der 2. Januar-Ausgabe, wo erneut informiert worden war, dass unsere ausländischen Kolleginnen und Kollegen ausschließlich in Mark der DDR gezahlt werden, erreichen uns Anfragen zum so genannten Transfer eines Teiles des Lohnes in die Heimatländer.

Hier die Antwort:

Werktätige, welche auf der Basis von bilateralen Verträgen im Rahmen von Arbeits- und Qualifizierungsabkommen in den Betrieben der DDR arbeiten, haben das Recht, einen Teil ihrer Arbeitseinkommen in ihr Heimatland zu transferieren (überweisen). Von Werktätigen der Republik Polen und Werktätigen der Volksrepublik Angola wird dies zurzeit nicht genutzt. Werktätige aus der Volksrepublik Mocambique sind von deren Seite verpflichtet, 40 Prozent des Nettobetrages minus 350,- Mark Freibetrag monatlich in ihr Heimatland zu überweisen. Über dieses Guthaben können sie später in ihrer Heimat in der Landeswährung verfügen, die nicht frei konvertierbar ist.

Vietnamesische Werktätige sind ebenfalls aus vietnamesischer Sicht verpflichtet und vertraglich gebunden, 12 Prozent vom Bruttoeinkommen zu transferieren. Jedoch werden diese Überweisungen für staatliche- bzw. kommunale Zwecke verwendet. Das Abkommen mit der Republik Kuba wird in diesem Jahr beendet und entspricht fast der Verfahrensweise von mocambiquischen Werktätigen.

Die Überweisungen bei allen Nationen erfolgt im Clearingverfahren (Verrechnungsverfahren). Über den gültigen Dollarkurs wird der Anteil in der Landeswährung berechnet. Durch diese Überweisungen gehen unserem Staat keine Valutamittel verloren, da diese Verrechnungen genutzt werden, um bestehende Schulden der betreffenden Länder bei der DDR zu tilgen. Es besteht also ein natürliches Interesse von Seiten der DDR am Transfer ausländischer Werktätiger. Alle im Betrieb eingesetzten Werktätigen erhalten von unserem Betrieb keinerlei Zuwendungen an Valutamitteln.

B(...),
SBS d. BD u. Ltr. Abt.
ausl. WT

aus: WIR, Nr. 3/90, 1. Februar-Ausgabe, 35. Jahrgang, Betriebszeitung der Werktätigen des VEB Baumwollspinnerei Flöha und der Zwirnerei und Nähfadenfabrik Oederan


Bis Nr. 22/89 hieß die Betriebszeitung, Roter Stern Organ der Leitung der BPO der SED VEB Baumwollspinnerei Flöha Zwirnerei und Nähfadenfabrik Oederan, danach einfach nur Betriebszeitung und ab 3/90 WIR.


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