Interview mit einem Betriebsratsmitglied der
"1. Chemnitzer Maschinenfabrik"

taz: Für Betriebsräte gibt es in der DDR zwar eine Reihe von Initiativen, aber noch keine gesetzliche Grundlage. Wie kommt es, dass bei Ihnen schon ein gewählter Betriebsrat arbeitet?

Lothar L.: Im Oktober haben wir einen Aufruf an die Partei- und Gewerkschaftsleitung im Betrieb veröffentlicht: "Stellt euch der Diskussion oder macht euren Platz frei für Fähigere!" Zwei Tage danach haben wir die erste Belegschaftsvollversammlung seit 25 Jahren veranstaltet. Dort habe ich den Forderungskatalog des Neuen Forums bekannt gegeben und hatte fast die gesamte Belegschaft hinter mir. Drei Wochen später haben wir die Betriebsparteileitung aufgelöst und die Kampfgruppen mithilfe der Volkspolizei entwaffnet - als erster Betrieb in der DDR. Auch unsere Betriebsgewerkschaftsleitung hat sich zurückgezogen, und nun gab es keine Macht mehr, die die Betriebsleitung hätte kontrollieren können.

In Absprache mit unserem Direktor haben wir dann einen provisorischen Betriebsrat - 13 Männer und zwei Frauen gebildet, der Anfang Dezember von der Gesamtbelegschaft gewählt wurde. Seitdem sitzen wir in den Leitungssitzungen mit am Tisch, haben in unseren Betriebsnamen "Chemnitz" eingefügt und auch schon Entscheidungen gegen die Betriebsleitung durchgesetzt.

Zum Beispiel?

Wir haben verhindert, dass zwei entlassene Funktionäre aus SED bzw. Stasi bei uns in leitende Funktionen kommen sollten. Sie sollen jetzt Arbeit - aber keine Direktionsstellen bekommen.

Welche Rolle spielt in Ihrer Diskussion das bundesdeutsche Betriebsverfassungsgesetz - wollen Sie es in der DDR einführen?

Wir haben uns den Text von der IG Metall besorgt. Ich meine, wir brauchen das Rad ja nicht neu zu erfinden. Da es aber bei uns andere Eigentumsverhältnisse gibt, müssen wir natürlich ein anderes Gesetz ausarbeiten. Wir haben dafür zusammen mit Juristen eine Konzeptionsgruppe gebildet. Den Entwurf werden wir dann debattieren und ihn vielleicht als Grundlage für die ganze DDR vorschlagen. Außerdem hat hierzu das Neue Forum eine Fachgruppe, insgesamt gibt es in Karl-Marx-Stadt in etwa 40 großen und mittleren Betrieben Initiativgruppen für Betriebsräte.

Interview: Michael Rediske

taz, 24.01.1990